DJ Westradio
gestalten, sprachen wir das unter den Arbeitern übliche Proleten-Sächsisch und gaben uns außerdem Namen wie »Lothar«, »Günter« und »Horschte«. Besonders schön war, daß sich unser Lehrmeister ständig verpißte, wir darum oft Pause machen konnten und so tatsächlich sehr realistisch in die Sozialistische Produktion eingeführt wurden.
Den theoretischen Unterbau zur Praktischen Arbeit im Fach »Einführung in die Sozialistische Produktion«, kurz ESP, bekamen wir ebenfalls 14tägig für vier Stunden. Von diesem Unterrichtsfach ist mir absolut nichts im Gedächtnis geblieben. Ich weiß nur, daß es das langweiligste war, was ich neben dem Russischunterricht in meiner Schulzeit ertragen mußte. Dementsprechend verhaßt waren die ESP-Lehrer, dementsprechend haßten die ESP-Lehrer ihre Schüler. Reden wir lieber von was Schönerem.
Rüstzeiten
Die Teilnahme am Kinderferienlager war, wie der Name schon erahnen läßt, Kindern vorbehalten. Das waren wir mit 14 Jahren nun nicht mehr. Unser achtes Schuljahr begann, und wir wurden, ob nun mit oder ohne Jugendweihe, endlich offiziell Jugendliche. Das kam uns allen natürlich sehr gelegen, denn wir stecktenja mitten in der Pubertät. Dennoch bedauerte ich es sehr, nun nicht mehr ins Ferienlager fahren zu können, zumal gerade die Zeit im Kinderferienlager so unglaublich nützlich auf dem Weg vom Kind zum Jugendlichen war.
Glücklicherweise bot sich für mich eine interessante Alternative: »Rüstzeiten«. Rüstzeiten waren das kirchliche Pendant zum Pionierferienlager. Seit einigen Jahren besuchte ich auf Wunsch meiner Eltern die Christenlehre der evangelisch-methodistischen Kirche, einer kleinen freikirchlichen Gemeinde nicht weit vom Stadtzentrum entfernt in der Paul-Gruner-Straße. Dort wurde ich im Frühsommer 1986 konfirmiert, zusammen mit zwei langjährigen Freunden, den Götzens-Zwillingen. Markus und Daniel waren Pfarrerssöhne, und wir kannten uns schon ewig durch unsere befreundeten Väter. Die Jungs waren eineiige Zwillinge, und ich hatte Jahre gebraucht, bis ich sicher wußte, wer von beiden wer war.
Wer noch nie etwas von den Methodisten gehört hat: Die methodistische Kirche ist in den USA die zweitstärksteKonfession, in der DDR war sie jedoch eher eine Splittergruppe innerhalb der Kirchenlandschaft. Glücklicherweise gab es in Westdeutschland einige methodistische Gemeinden, die ihre Glaubensbrüder und -schwestern im Osten unterstützten. Eines dieser Projekte inoffizieller deutsch-deutscher Zusammenarbeit war das Ferienheim »Schwarzenshof« in der Nähe von Rudolstadt in Thüringen. Das Haus lag direkt am Waldrand auf einem kleinen Hügel und war mindestens so romantisch gelegen wie mein altes Ferienlager in Weißbach. Aus dem Fenster hatte man einen herrlichen Blick ins Tal – und keine 300 Meter entfernt befand sich ein Truppenübungsplatz der Roten Armee, wo immer mal ein paar Panzer den Boden umpflügten.
Im Sommer 1986 waren wir zur Rüstzeit eine relativ überschaubare Gruppe Jugendlicher aus den Jungen Gemeinden der methodistischen Kirche, nicht mehr als 30 Teens vor allem aus dem Süden der DDR. Das hörte man schon am urigen erzgebirgischen Dialekt. Die Leute aus den Jungen Gemeinden sind noch mal eine Welt für sich. Ich kannte ja schon einige aus Leipzig, aber in den ländlicheren Gegenden war der Hippie-Geist – wenn man mal von freier Liebe und Drogen absah – noch weit verbreitet. »Peacer« wurden solche Leute im allgemeinen liebevoll genannt. Von den Jugendsubkulturen der 80er Jahre hatten die noch nichts gehört. Die Zwillinge und ich waren fast die einzigen, die sich für Popmusik, Depeche Mode und BRAVO-Magazine interessierten. Die anderen standen auf Herbert Grönemeyer, auf Herbert Grönemeyer und einige andere noch auf Herbert Grönemeyer. Jemand hatte dessen gerade aktuelle Platte »Sprünge« mitgebracht,welche dann Dutzende Male auf der von einer westdeutschen Partnergemeinde gestifteten SABA-Hi-Fi-Anlage überspielt wurde. Nur ab und an konnten die Götzens und ich mal eines unserer mitgebrachten Tapes einlegen, stießen aber mit Billy Idol und Frankie Goes To Hollywood nur auf verständnislose Mienen. Trotzdem fanden wir uns alle sympathisch, und es kam auch zu keinen Massenschlägereien am SABA-Kassettendeck.
»Schwarzenshof« war für mich eines dieser zahlreichen exterritorialen Gebiete. Beim Eintritt in das Haus fühlte man sich nicht mehr in der DDR, und das nicht nur wegen des christlichen Hintergrundes. Es
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