DJ Westradio
NVA-Offiziersschülern, ersten NVA-mäßigen Schikanierungen, Besäufnissen und Prügeleien. Die Jungs aus den höheren Klassen hatten uns davon berichtet. Das klang ganz schön gruselig, denn ich war ein Softi, ein Popper, und versuchte gerade Teil der schwarzgekleideten New-Wave-Jugendsubkultur zu sein. Wehrlager, das war was für harte Jungs und EOSStreber. Ich wollte da nicht hin. Aber sich davor zu drücken war etwa so, wie nicht in die FDJ einzutreten, und machte eben gar keinen guten Eindruck. Eigentlich sollten alle Jungs aus Leipzigs 9. Klassen dort hin. Doch, DDR sei Dank, gab es nicht genug freie Plätze in Scheibe-Alsbach. Aus irgendeinem Grund konnten aus unserer »Hoffmann« nur acht Jungs pro Klasse hinfahren. Der Rest sollte zu Hause an der Schule zusammen mit den Mädchen Krieg spielen – »Zivilverteidigung« nannte man das. Das schien die Rettung zu sein!
Während einer Biologiestunde kam eines Tages unsere Klassenlehrerin Frau Sträubig mit einer Liste reingeplatzt und fragte, wer mit nach Scheibe-Alsbach wolle. Die Arme gingen in die Höhe, weit mehr als acht, Engagement zeigen für den Ausbildungsplatz oder die EOS. Kam ja sicher in irgendeine Akte. Ich überlegte: Melde ich mich, und mein Name kommt auf die Liste, macht es einen guten Eindruck. Andererseits barg das natürlich auch die Gefahr, dann tatsächlich hinfahren zu müssen. Nauni und Rüdi standen bereitsauf der Liste. Was nun? Blickkontakt mit Thümi. Wir meldeten uns nicht. Sicher war sicher. Wir wollten lieber in Leipzig bei unseren Mädels einen guten Eindruck machen.
Und wir hatten eine schöne Zeit zu Hause. Unser Biologie- und Chemielehrer Herr Wolf erklärte uns, wie man unseren Schulkeller in einen atombombensicheren Luftschutzraum umbaute und wie man eine Gasmaske richtig aufsetzte. Ich hatte mir vorsorglich noch eine ärztliche Befreiung vom Tragen der Gasmaske besorgt und schaute den anderen zu, wie sie auf das Kommando »Gas!« um die Wette die Masken aufsetzen mußten. Die enganliegende Gummimaske hätte außerdem meine Depeche-Mode-Bürstenfrisur kaputt gemacht, und die war mir nun wirklich wichtiger als der korrekte Umgang mit dem »Schnuffi«. Der Musiklehrer Herr Neumann leitete den Erste-Hilfe-Kurs. Glücklicherweise zeigte er uns die Mund-zu-Mund-Beatmung nur an einer Puppe. Mit dem wollte wirklich keiner rumknutschen.
So konnte ich zwar nicht in Scheibe-Alsbach an den abendlichen Schlägereien mit den Altenburgern teilnehmen und verpaßte auch das heimliche Abhauen aus dem Lager, um in der Dorfkneipe Bier zu trinken. Dafür kletterte ich mit unseren Mädels auf den Scherbelberg an der Fockestraße und spielte unter fachmännischer Anleitung unseres Werkenlehrers Herr Jäger eine Zivilverteidigungsversion von Räuber und Gendarm. Das wäre dann also die Heimatfront gewesen.
Außerdem gab es noch den Wehrkundeunterricht, 14tägig eine Doppelstunde. Hierzu kam ein gestandener Berufsoffizier zu uns in die Schule und erzählte unsetwas über das tolle Leben bei der NVA und wie der Westen auf der Lauer läge, uns zu überfallen. Der Typ war jedoch – vorsichtig ausgedrückt – weder optisch noch rhetorisch überzeugend, um uns für die NVA zu begeistern. Er war mittleren Alters, etwas aufgedunsen, sprach den charmanten Leipziger Dialekt und war auch sonst für diesen Job nicht geeignet. Immerhin strahlte er beziehungsweise die Institution, die er repräsentierte, gerade noch so viel Autorität aus, daß wir nicht seinen Unterricht sabotierten. Probleme hatten wir aber bereits, wenn wir ihn ansprechen wollten. Keiner konnte sich seinen Dienstgrad merken. Es war irgend etwas wie Unterstabsfähnrich. Eigentlich hätten wir das wissen sollen, weil man ihm vor Beginn der Unterrichtsstunde Meldung machen mußte, daß unsere Klasse nun bereit für sein Gesülze sei. Bei jeder Meldung wurde ihm ein neuer Dienstgrad verliehen, den er jedesmal korrigieren mußte. Unter uns nannten wir ihn einfach »Wichslippe«, weil sich ab der zweiten Stunde immer zwischen Ober- und Unterlippe ein weißer Speichelfaden bildete, der selbst beim Öffnen des Mundes nicht wegging.
Gleich in der ersten Stunde machte er uns klar, daß wir das nächste Mal alle im FDJ-Hemd zu erscheinen hätten. Im Gegenzug könnten wir auch von ihm erwarten, daß er in Uniform käme. Leider hatten wir nicht den Mut, ihm zu sagen, daß wir überhaupt nicht wollten, daß er in Uniform käme. Eigentlich sollte er gar nicht kommen, denn das, was er uns erzählen
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