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DJ Westradio

DJ Westradio

Titel: DJ Westradio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Lange
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Irgendwie von all den wachsamen Augen der DDR-Sicherheitsorgane ignoriert, zog diese Gruppe von etwa 50 bis 100 Fußball-»Rowdys«, unter ihnen nicht wenige Neo-Nazis, Richtung Kleinmesse. Der bekannte Treffpunkt der Gruftis und Punks war ihnen schon lange ein Dorn im Auge, und an diesem Tag sollten die dort mal ordentlich aufgemischt werden. Wenig später standen sie vor der Kotzmühle und blockierten die Ausgänge. Keiner von uns hatte mitbekommen, wer da im Anmarsch war, doch nun war es zu spät. Einer von ihnen rief: »Feuer frei!« Glücklicherweise wurde nicht wirklich geschossen, aber nun droschen die Typen auf alle ein, die herumstanden. Panik brach aus, unsere Clique verlor sich aus den Augen. In letzter Sekunde schaffte ich es, auf das gerade langsam fahrende Karussell aufzuspringen und auf der gegenüberliegenden Seite einen Ausgang zu erreichen, der nicht blockiert wurde. Ich drehte mich noch mal um und sah aber nur einen riesigen Tumult, aus dem sich Rüdi herausquetschte. Von den anderen keine Spur. Doch zurück konnten wir nicht mehr, werwill schon freiwillig verprügelt werden. Also machten wir uns aus dem Staub. Über riesige Umwege kamen wir schließlich unversehrt zu Hause an.
    Am nächsten Tag trafen wir die anderen. Nauni hatte sich auch aus dem Getümmel absetzen können, war aber verfolgt worden und hatte sich nur durch einen beherzten Sprung in eine Schießbude vor der Prügel retten können. Triebi und Nobi kamen ebenfalls so einigermaßen ungeschoren davon. Nur Thümi hatte ein paar Schläge einstecken müssen – wie immer. Nachdem sie vom Gelände runter waren, trafen sie draußen auf eine Polizeistreife, die überhaupt nicht kapieren wollte, was da gerade auf der Kleinmesse abging. »Das habt ihr euch doch bestimmt selber zuzuschreiben«, antwortete der Polizist auf die Information, daß hier gerade schwarzgekleidete Jugendliche grundlos verprügelt worden waren. Immerhin waren wir alle einigermaßen heil aus der Sache rausgekommen, nur der Schreck saß uns noch längere Zeit in den Gliedern.
    Einen Monat später gab es in Ostberlin bei einem Punkkonzert in der Zionskirche einen weiteren spektakulären Überfall von Faschos. Wir erfuhren bald davon und merkten, wie sich auch in Leipzig in der Folgezeit die Stimmung änderte. Hatte man bisher relativ ungestört mit schwarzen Klamotten und wilden Frisuren rumlaufen können, traf man nun zunehmend auf Fascho-Grüppchen, die einen aufgrund des Outfits verprügeln wollten. Verschiedene Discos waren nun No-Go-Areas mit Depeche-Mode- oder The-Cure-Outfit.
    Das rechtsextreme Gedankengut dieser Typen war, anders als es die DDR-Medien später verbreiteten, nicht aus dem Westen importiert, sondern seit Jahrzehntenin der DDR selbst herangewachsen. Die Nazi-Outfit-Vorlagen kamen zwar von drüben, vereinten sich hier aber lediglich mit der bereits vorhandenen rechten Einstellung dieser Jugendlichen. Nazis waren nicht nur Hilfsschüler, sondern auch Söhne von mittleren SED-Bonzen. Fascho-Sein wurde im selbsternannten Land der Antifaschisten zur angesagten und erlebnisorientierten Fundamentalopposition von Jugendlichen gegen den DDR-Staat.
    Für unsere Clique war dies eine Situation, mit der wir schwer klarkamen, denn wir waren eigentlich alle Pazifisten und hatten null Bock auf Prügeleien. Einige stadtbekannte Gruftis lösten diesen inneren Konflikt auf etwas paradoxe Weise: Sie schoren sich die Köpfe und wurden kurzerhand selbst Faschos. So konnte es passieren, daß man vor Leuten wegrennen mußte, mit denen man vor zwei Wochen noch in einer Disco zu The Cure getanzt hatte.
    Wir blieben in der Folgezeit lieber erst mal in unserer Südvorstadt und erweiterten unsere Clique auf dem Steinplatz um einige ältere »Stinos« aus unserer Schule, die auch mal zuhauen könnten, wenn wir in unserem bislang noch relativ ruhigen Wohnviertel mal unangenehmen Besuch bekämen.
    Gut anderthalb Jahre später sah ich vor Triebis Haus einen dieser zahlreichen »Kinder-Faschos«, die nun durch Leipzig zogen. Er wirkte sehr schmächtig und war bestimmt drei Jahre jünger als ich. Gefährlich konnte der mir bestimmt nicht werden, und darum fühlte ich mich mutig genug, ihn lautstark auszulachen, anstatt wie sonst sofort abzuhauen. Er bemerkte mich, war äußerst verunsichert (was mein Selbstwertgefühl nochsteigerte) und drängte mir ein Gespräch auf. Auf seine Jeanshose hatte er mit Kuli das Zeichen der niederländischen Hausbesetzerbewegung draufgemalt, einen Krakel,

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