DJ Westradio
Hände waren ja noch frei. Alle klatschten zum Takt der Songs, hier war eine gewaltige menschliche Beatbox am Werk. Und Dave sang nicht alleine, denn wir waren ebenfalls textsicher. Pure Energie im Saal. Zwischen den Songs schrien sich Jungs und Mädchen die Seele aus dem Leib. DAAAAAVE!!!! MAAARTIIIN! Die anderen beiden Mitglieder von Depeche Mode hatten nicht so viele persönliche Fans, aber das waren sie ja gewöhnt. Ich liebte alle vier. Zwei Stunden Volldampf. O Gott, laß es nicht schon vorbei sein. Wir schindeten noch zwei Zugaben raus.
22 Uhr war das Konzert zu Ende. Völlig heiser und benommen taumelte ich aus der Halle Richtung S-Bahn. Ich hatte Depeche Mode live gesehen! Depeche Mode!
Auf dem Bahnhof Lichtenberg entdeckte ich eine Gruppe Fans. Meine drei Zugbekannten aus Leipzig waren auch dabei. Sie hatten vor der Halle für 1400 Mark drei Karten bekommen. Aus ihrem Kassettenrekorder dröhnte ein Live-Mitschnitt des Konzertes, ein Bootleg, sehr begehrt bei Fans. Ich hatte nicht die blasseste Ahnung, wie sie den riesigen Rekorder in die Halle gekriegt hatten. Wir redeten pausenlos vom Konzert, analysierten die Playlist, die Bühnendekoration und natürlich die Band.
Gegen vier Uhr war ich endlich wieder zu Hause in Leipzig, sank glücklich und müde ins Bett und ging drei Stunden später pünktlich zur ersten Stunde. In derSchule wurde ich von Schülern aller Klassen bestürmt: »Hat es geklappt? Hast du sie gesehen? War das ein richtiges Konzert?« Ich gab natürlich gerne Auskunft, denn ich war stolz auf mich, daß ich es geschaffte hatte: Ich hatte Depeche Mode live gesehen.
Lehrzeit
Im Sommer 1988 hatte ich zehn Jahre Polytechnische Oberschule geschafft. Das Abitur war in der DDR nur den Einsenschreibern und Linientreuen vorbehalten – und ich gehörte weder der einen noch der anderen Gruppe an. Ich hätte damals auch nicht gewußt, was ich hätte studieren sollen, und vor allem war ich froh, nun keinen Russisch- und Chemieunterricht mehr zu haben. Ein Jahr zuvor hatte ich mit etwas Glück den Lehrvertrag für meinen nächsten Lebensabschnitt unterschrieben: Tischler für Dekorationsbau an den Leipziger Theatern. Von nun an würde ich auch mein erstes eigenes Geld verdienen: 120 Mark brutto pro Monat im ersten Lehrjahr. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit dem Geld machen sollte, denn ich trank ja keinen Alkohol, und das, was ich mir gerne gekauft hätte, gab es nicht gegen DDR-Geld. Von der Kohle verbrauchte ich im Monat maximal 30 Mark. Damals träumte ich verschwommen von einer späteren Karriere als Bühnenbildner, aber eigentlich nur, weil man da immer so schöne Modelle basteln konnte, und gebastelt hatte ich ja in meiner Kindheit auch schon sehr gern.
Die Ausbildung dauerte zwei Jahre. Jeweils eine Woche waren wir in der Berufsschule KBS Holz »Franz Schubert« außerhalb Leipzigs in einem trostlosen Kaff namens Schkeuditz, die andere Woche sägten und hobelten wir in den Theaterwerkstätten. Unser Ausbildungsjahrgang bei den Theatern zählte zwölf Lehrlinge,acht Jungs und immerhin vier Mädchen. Wer sich nichts unter »Tischler für Dekorationsbau« vorstellen kann, darf auch Kulissenschieber sagen. Wir waren eine recht bunte Truppe. Matthias zum Beispiel war ein Ärzte-Fan. Ihn hatte ich schon 1985 bei meinem letzten Ferienlageraufenthalt kennengelernt. Till trug lange Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Er redete ständig von Blues, Joe Cocker, Anarchie und daß es in der DDR scheiße wäre. Seine familiären Westkontakte waren offenbar üppig, was man an seinen Klamotten sehen konnte. Wir hatten auch einen Metaller vom Dorf unter uns, einen Drei-Zentner-Typen. Der hatte die Ruhe weg. Jan und André waren Popper, Discogänger, und trugen hellgelbe Sweatshirts, Stoffhosen und Slipper-Schuhe. Auch mit den vier Mädels verstanden wir uns prima. Schließlich waren wir ja ein »Lehrlingskollektiv«.
Arbeitsbeginn war mitten in der Nacht um 6.45 Uhr. Das hieß für mich, 5.55 Uhr aufstehen, frühstücken, losrennen, um die Straßenbahn 6.16 Uhr zu bekommen, die nicht selten schon 6.14 Uhr vor meiner Nase davonfuhr. Die Bahnen waren um diese Zeit immer zum Bersten gefüllt mit Leuten, die zur Arbeit mußten. Fiel mal eine aus, war die folgende gleich doppelt so voll, und man mußte sich mit viel Mühe selbst reinstopfen. Trotz der Massen von Fahrgästen war es immer auffällig still, weil alle noch müde waren. Nur die Fahrgeräusche der Straßenbahn waren zu hören.
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