DJ Westradio
Gegen diese akustische Trostlosigkeit zu früher Stunde hatte ich mir von meiner Westoma einen Walkman zum Geburtstag schicken lassen, der mich von nun an auf meinen endlosen Straßenbahnfahrten zur Arbeit undzur Berufsschule begleitete. Wenn ich einmal vergaß, die Batterien aufzuladen, und bereits beim Einsteigen in die Bahn nur noch eine leiernde Kassette hörte, war die schlechte Laune für die nächste Stunde vorprogrammiert.
Die Theaterwerkstätten lagen im Norden der Stadt in einem kleineren Industriegebiet. Der Weg, den ich von der Straßenbahnhaltestelle bis dorthin noch zurükklegen mußte, war so aufregend, wie ich wach war. Manchmal sah man wenigstens einen schönen Sonnenaufgang, der zur melancholischen Musik von Talk Talk in meinem Walkman paßte. Die Theaterwerkstätten befanden sich in einem mehrstöckigen Industriebau, an dem seit den 60er Jahren nichts mehr gemacht worden war. Unsere Lehrwerkstatt, ein langer schmaler Raum, lag im zweiten Stock. Jeder von uns hatte dort eine Werkbank und einen Schrank mit seinem Werkzeug. Mit den Facharbeitern aus der großen Tischlerei teilten wir uns die Maschinen. Diese waren gut 20 bis 30 Jahre alt und verlangten viel Fingerspitzengefühl, wenn man am Ende das geforderte Maß erhalten wollte. In der Hinsicht eine gute Schule.
Immerhin schaffte ich es fast jeden Tag gerade so, 6.45 Uhr an der Werkbank zu stehen. Unser Lehrmeister Herr Jellinek war ein ernst blickender kleiner Mann mit nach hinten gekämmten grauen Haaren und schlesischem Dialekt. Er stand wohl kurz vor der Rente. Auf pünktliches Erscheinen legte er vor allem deshalb wert, weil er jeden Morgen 6.45 Uhr »Meisterbesprechung« hatte und für 20 Minuten verschwand. Vorher mußten alle Lehrlinge am Arbeitsplatz sein. Wir rätselten zwei Jahre lang, was die Meister der Theaterwerkstättenwohl jeden Tag zu so früher Stunde zu besprechen hatten, aber es blieb ihr Geheimnis. Diese offenbar völlig sinnlosen Besprechungen hatten für uns jedoch den Vorteil, daß wir allmorgendlich für 20 Minuten unbeobachtet waren und uns manchmal auf die Werkbank für ein kleines Nickerchen legen konnten. Kam dann der »Alte«, hieß es, Geschäftigkeit vortäuschen bis zur Frühstückspause, dann bis zur Mittagspause und dann bis zum Feierabend gegen 16 Uhr.
Das Arbeiten mit Holz war schon nicht schlecht. Aber durch das zeitige Aufstehen hatten einige von uns, inklusive mir, erhebliche Motivationsprobleme. Man wollte lieber seine Ruhe haben. Also suchte man nach Alternativen zu den gestellten Aufgaben. Das Haus hatte vier Etagen, wo es überall was zu sehen gab. Oben unterm Dach lag der hellerleuchtete Malsaal. Dort wurden die Kulissen angestrichen. Außerdem war das der einzige Arbeitsbereich im Haus, wo ein Radio lief, meistens RIAS Berlin. Bestimmt wäre unser Arbeitseifer größer gewesen, wenn auch wir hätten Radio hören können, besonders Westsender, aber der »Alte« war eben ein Alter und erlaubte es uns leider nicht. Manchmal begegnete man im Treppenhaus oder im Pausenraum dem Chef von der Rüstmeisterei, wo sie die pyrotechnischen Effekte herstellten. Er sah aus wie Lemmy, der Sänger der englischen Heavy-Metal-Band »Motörhead«, also ein wenig zum Fürchten. Aber die Ähnlichkeit verblüffte uns immer wieder.
Viel Zeit konnte man außerdem ganz offiziell vertrödeln, wenn man auf »Materialsuche« ging. In einer großen Halle im Erdgeschoß wurden die alten, »abgespielten« Kulissen nicht einfach in den Containergekloppt, sondern wegen der notorischen Materialknappheit wieder auseinandergenommen und das Holz, befreit von Stoff und Nägeln, in Regale einsortiert. An diesen Regalen konnte man dann endlos viel Zeit zubringen, um passende Holzstücke zu suchen.
Die Berufsschule am anderen Ende der Stadt war eine alte umgebaute Dorfschule. Warum sie nach dem Komponisten Franz Schubert benannt worden war, weiß ich bis heute nicht. Dort angekommen, erwarteten einen die scheinbar endlosen Unterrichtsfächer Technisches Zeichnen, Werkstoffkunde und Maschinenkunde. Absoluter Höhepunkt war das Fach Sozialistische Produktion. Unsere Lehrerin machte einen furchtbar übermotivierten Eindruck, als ob sie jeden Morgen kalt geduscht und zwei Liter Kaffee getrunken hätte. »Arbeitszeit ist Leistungszeit!« rief sie uns freudestrahlend entgegen und klatschte dabei in die Hände. Wir hingegen hatten mit dem Schlaf zu kämpfen. Was wollte diese Frau mit ihrem endlosen Phrasengedresche nur von uns? Während sie
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