DJ Westradio
redete, entschwebte einem der eigene Geist, ihre Stimme wurde leiser und undeutlich, die Augen gehorchten einem nicht mehr und fingen an zu schielen, so daß man nicht mehr das lesen konnte, was man soeben aufgeschrieben hatte. Doch bevor der Kopf sanft auf der Schulbank landen konnte und die Augenlider sich schlossen, wurden wir mit einem »Los, los! Arbeitszeit ist Leistungszeit!« zur Erledigung der nächsten Aufgabe gedrängt.
Im zweiten Lehrjahr wurde unsere Ausbildung um einiges interessanter: Wir kamen an die Leipziger Oper mitten in der Innenstadt. Als wir am ersten Tag artig 6.45 Uhr am Personaleingang standen, mußten wir aufunseren Lehrausbilder, einen vollbärtigen Gemütsmenschen mit leichtem Berliner Dialekt, bis weit nach sieben Uhr warten. Er nahm uns mit ins »Lehrkabinett«, einen fensterlosen Raum im Kellergeschoß. Das erste, was er uns erklärte, war, daß es ab morgen immer erst acht Uhr losgehen würde, weil an der Oper alle Bühnentechniker erst um acht Uhr kommen würden. Wir schauten uns sprachlos an. Konnte es wahr sein? Hier waren wir richtig. Anschließend wurden wir im Haus herumgeführt. Bühne, Seitenbühnen, Schnürboden, Unterbühne, riesige Lastenfahrstühle – eine interessante Welt, die sich uns eröffnete. Dann wurden wir verschiedenen Abteilungen zugeteilt, den Kulissenschiebern oder dem Schnürboden. Schnell merkten wir: Wer hier arbeitete, war absolut cool. Einer wurde von allen nur »Stalin« genannt, obwohl er eher wie Kaiser Wilhelm II. aussah. »Leo« war der Kräftigste von allen und trug alleine schwerste Kulissenteile, an denen wir Lehrlinge uns zu viert abmühten. Ein anderer kräftiger Mittvierziger sang unter der Dusche italienische Opern mit einer Stimme, die einige der Solisten neidisch werden ließ.
Die absolute Freakshow waren jedoch die Leute vom Magazin. Die Oper hatte eine riesige Durchfahrt mit angrenzenden Lagerräumen für Kulissen. Was gebraucht wurde, luden die drei hageren Männer vom Magazin in die Lastenaufzüge und fuhren diese hoch. Die drei mit ihren dicken Brillen hatten, vorsichtig ausgedrückt, keine höhere Schulbildung genossen. So hatten sie die Kommunikation mit ihrer Umwelt auf einige wenige Wortgruppen effektiv reduziert. »Masse, Männer!« schrien sie über die Bühne, wenn sie einen Fahrstuhlvoller Kulissenteile hochgefahren hatten. Waren die schwer, bekamen wir noch den Hinweis »Iss okssch!«, was soviel bedeuten sollte, daß das Zeug schwer wie ein Ochse war. »Eene an!« hieß, daß man jetzt eine Zigarettenpause machte, »Eene off!« bedeutete Bierpause. Für alle anderen Lebenslagen hörten wir noch: »Bessor isses, aldor Freund!« Ich schwöre, mehr haben die Typen nicht gesagt! Meister der Rationalisierung, zumal dennoch alle immer verstanden, was sie gerade meinten.
Nicht uninteressant waren abends die Vorstellungen, bei denen wir mitarbeiteten, wenn wir Spätschicht hatten. »Carmen«, »Zauberflöte«, »Hänsel und Gretel« – die Liste war lang, und mein Bedarf an Opernmusik ist für den Rest meines Lebens gedeckt. Die Ballettmädels erschienen mir ziemlich unterernährt, und nur die älteren Bühnenhandwerker schauten ihnen verträumt beim Tanzen zu.
Ein lustiges Spektakel bot sich, wenn die Vorstellung gegen 22.30 Uhr zu Ende, offizieller Dienstschluß aber erst 24 Uhr war. Alle wollten noch in der Kantine ein gepflegtes Bier trinken gehen. Diese machte jedoch 23.30 Uhr zu. Also hieß es, sich beeilen. Alle wußten: Wenn die Bühne frei ist, ist Feierabend. Kaum war der Applaus verklungen, stürzten alle Arbeiter auf die Bühne, um den Abbau der Kulissen noch vor Ausschankschluß zu schaffen. Da rannte man im Dauerlauf zu zweit mit fünf Meter hohen Wänden in die Magazine, warf sich die Teile zu; alles schrie, fluchte, lachte. Ganz nebenbei lief noch der interne Wettbewerb, welche Seite der Bühne von der jeweiligen Brigade zuerst frei geräumt war. Ein lautes »Links ist!« oder »Rechts ist!« kürte dann den Sieger des Abends. Wir Lehrlingerannten natürlich fleißig mit und wunderten uns über soviel Arbeitsmotivation in einem sozialistischen Betrieb, der die Oper ja trotz alledem war. Jedenfalls war nach 20 Minuten alles weggeräumt, worauf man unten in der Kantine beim Bier saß, und das noch während der Arbeitszeit.
Born in GDR - Die anderen Bands
Lange Zeit war ich völlig auf westliche Bands fixiert gewesen. Zum Live-Konzert einer Ostband zu gehen wäre mir nie in den Sinn gekommen. Doch je mehr wir uns
Weitere Kostenlose Bücher