DJ Westradio
ziemlich scheiße aus. Überhaupt schien die ganze Sache für die Lehrer ein Retrotrip in ihre NVA-Zeit zu sein. Als ich mal einen Blick ins Lehrerzimmer warf, sah ich Unmengen von Schnapsflaschen auf dem Schreibtischen stehen. Diese waren bestimmt nicht für den Altstoffhandel dort abgestellt worden. Alle wußten, daß bei der NVA immer viel gesoffen wurde. Anders konnte man die Armeezeit wohl nicht überstehen.
Ende der 70er Jahre besuchte ich mal mit meinem Vater einen seiner Arbeitskollegen vom Kabarett, der zum Reservedienst eingezogen war, in einer Leipziger Kaserne zum »Tag der offenen Tür«. Natürlich sollten wir ihm Alkohol mitbringen, was selbstverständlich absolut verboten war. Mein Vater hatte in seinem Manteleine Pulle Westschnaps versteckt, in meiner Jackentasche verbarg sich ein »Schlucki«. Die Übergabe des Schmuggelgutes erfolgte in der Kaserne auf dem Klo. Anschließend schauten wir uns noch Panzer an.
An unserer Berufsschule hatten wir die »Wahl« der Ausbildung: entweder Mot-Schütze, also Infanterie, oder Militärkraftfahrer. Natürlich wollte ich weder motorisierter Schütze noch Militärkraftfahrer werden. Ich war ja eigentlich nur an dieser Berufsschule, um Tischler zu lernen. Die Ausbildung zum Militärkraftfahrer war bei Lehrlingen jedoch sehr beliebt, weil man so seine Fahrerlaubnis für wenig Geld ohne DDR-typische Wartezeiten machen konnte und außerdem gleich noch den LKW-Führerschein bekam. Die Lehrer sagten uns noch, daß vor allem die Leute mit Wohnsitz in Leipzig »MKF« werden sollten, weil die Jungs aus den umliegenden Ortschaften zu lange Anfahrtszeiten für die Fahrstunden hätten. Auch wenn nicht absehbar war, daß ich mir innerhalb der nächsten zehn Jahre ein Auto kaufen könnte, wollte ich schon gerne die Fleppen haben. Also kreuzte ich »Militärkraftfahrer« an.
Im Frühsommer 1989 war noch keinesfalls absehbar, was im Herbst außer Blättern noch so alles von den Bäumen fallen würde. Aber aus der sich immer mehr verbreitenden Respektlosigkeit gegenüber dem Staat entwickelte sich verstärkt partielle Aufmüpfigkeit. Von den etwa 80 Lehrlingen hatten, mich eingeschlossen, drei einen christlichen Hintergrund. Vor Beginn der Vormilitärischen Ausbildung gaben wir bekannt, daß wir an der als Höhepunkt deklarierten Schießausbildung mit echten Kalaschnikows nicht teilnehmen würden. Wir beriefen uns dabei etwas unverschämt auf den Statusder Bausoldaten in der DDR und beanspruchten das auch für uns. Unser Direktor bat uns daraufhin zum Gespräch. Für diesen Fall gab es offenbar keine gesetzliche Regelung. Erstaunlicherweise zeigte er sich »tolerant«, schließlich waren zwei der ihm unterstellten Lehrer-Kollegen auch bekennende Christen, und er versuchte nicht ernsthaft, uns umzustimmen oder uns mit irgendwas zu drohen. ABER: »Das mit der Ausbildung zum Militärkraftfahrer wird nun nichts.« – »Warum?« fragten wir. Die Antwort unseres Direx: »Auch der Militärkraftfahrer muß sein Fahrzeug mit der Waffe in der Hand verteidigen können. Das Gewehr gehört zur Ausrüstung eines MKF dazu, und wenn man nicht schießen lernen will, kann man auch kein Militärkraftwagenfahrer werden. Statt dessen werdet ihr Mot-Schütze.«
Wir fragten, etwas erstaunt über seine Logik: »Aber als Infanterist wird man doch auch an der Waffe ausgebildet.«
Die Antwort kam prompt: »Wenn das dran ist, macht ihr einfach was anderes. Guten Tag!«
Aha.
Ich muß sagen, deshalb bin ich schon noch ein wenig sauer. So entging mir der Führerschein inklusive LKW-Fahrerlaubnis für etwa 100 Ostmark. Statt dessen habe ich zwei Jahre später für über 2000 DM bei einer privaten Fahrschule in Leipzig meine Fleppen machen müssen. 2000 Westmark! Was für eine Geldverschwendung. Ich muß also im nachhinein feststellen, daß ich mir im Frühjahr 1989 meine »Zivilcourage« für 2000 Westmark erkauft habe. Ein teurer Spaß. Ich sollte bei irgendeinem SED-Opferverband einen Antrag auf Entschädigung stellen.
Montagsdemos
Demonstrationen hat Leipzig schon viele erlebt. Zu DDR-Zeiten natürlich auch. Besonders zum 1. Mai. Da sammelten sich in aller Herrgottsfrüh die Mitarbeiter der Betriebe, der Theater, der Universität und alle Schüler und Lehrlinge der Stadt in den Seitenstraßen des Stadtzentrums und warteten wie Statisten auf ihr Zeichen, daß sie sich zu einem Demonstrationszug auf dem Leipziger Ring, einer mehrspurigen Straße, welche die Leipziger Innenstadt umschließt, formieren
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