Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
Belle erinnerte sich an den Tag, als Edward VII. gekrönt wurde, an die Aufregung, die bunten Wimpel und Fahnen, die damals gehisst wurden. Mog hatte sie mitgenommen, um mit ihr die Prozession in Whitehall anzuschauen, und nie würde sie die vergoldete Kutsche und die jubelnden Menschen vergessen. An diesem Tag hatten sie auf der Straße gefeiert; jemand rollte ein Klavier nach draußen, und es wurde fast die ganze Nacht durch getrunken und getanzt.
Wenn dieses Heimweh sie überfiel, versuchte Belle sich einzureden, dass ihr Leben hier in New Orleans besser war als in England, aber trotzdem spukten ihr die Schulden bei Martha ständig im Hinterkopf herum. Ihr gesunder Menschenverstand und ihr Gespür für Zahlen sagten ihr, dass ihre Schulden schon seit Monaten getilgt sein mussten und dass Martha eine habgierige, verlogene Hexe war, die sie zum Narren hielt.
Belle hatte genug Geld gespart, um die Stadt zu verlassen, auch wenn es für die Überfahrt nach England nicht reichte, aber es hieß, dass Martha überall ihre Spione hatte und es ihr sofort zu Ohren kommen würde, wenn eins ihrer Mädchen eine Zugfahrkarte kaufte. In diesem Fall würde sie unverzüglich jemanden zum Bahnhof schicken, um das Mädchen daran zu hindern, in den Zug zu steigen.
Belle sagte sich, dass diese Schauergeschichte erfunden worden war, um die Mädchen einzuschüchtern, aber sie wagte es trotzdem nicht, das Risiko einzugehen. Wenn man sie erwischte, würde Martha sich an ihr rächen, das wusste sie. Sie würde Belle noch am selben Tag verkaufen, und zwar nicht an ein anderes Haus in der Basin Street, sondern einige Häuserblocks weiter, wo sie täglich vierzig bis fünfzig Männer bedienen müsste. Und die Leute, die diese Häuser betrieben, ließen ihre Mädchen nicht aus den Augen und verprügelten sie sofort, wenn sie aus der Reihe tanzten.
Schwangerschaft war eine weitere Sorge. Bis jetzt hatten Marthas Schwämmchen und Spülungen sie und auch die anderen Mädchen im Haus davor bewahrt, aber Belle wusste, dass andere Mädchen nicht so viel Glück hatten. Wenn sie schwanger wurden, konnten sie entweder Mammy Lou aufsuchen, eine Mulattin, die unerwünschte Babys abtreiben konnte, oder das Baby bekommen und darauf hoffen, dass ihre Madame sie nicht vor die Tür setzte. Belle wusste, dass Martha nie einem ihrer Mädchen erlaubt hätte, in ihrem Haus ein Kind aufzuziehen. In den Seitengassen gab es Bordelle, wo Babys und Kleinkinder in einem der oberen Räume untergebracht wurden, aber Belle hatte gehört, dass sie mit einem mit Laudanum versetzten Mittel ruhig gehalten und später, wenn sie größer waren, aufs Land geschickt wurden. Auch daheim in London hatte Belle von Kindern gehört, die zu Frauen geschickt wurden, die gegen Bezahlung auf sie aufpassten. Dort erfuhren sie weder Liebe noch Zuwendung und wurden meistens schlecht ernährt. Hier in Amerika war es angeblich genauso.
Aber einstweilen wollte Belle sich bemühen, weiterhin einen guten Eindruck auf Martha zu machen, weil sie immer noch das Gefühl hatte, dass die Frau sie nicht wirklich mochte. Für diese Vermutung gab es außer hier und da einem strengen Blick oder einem scharfen Wort keine greifbaren Beweise, aber die anderen Mädchen hatten ihr oft genug erzählt, wie nachtragend Martha sein konnte.
Belle fiel es nicht leicht, sich bei ihrer Madame einzuschmeicheln. Sie vermied es, in Marthas Gegenwart Bücher oder Zeitungen zu lesen, weil sie sich nicht von den anderen abheben wollte, und äußerte nie ungefragt ihre Meinung. Aber Belle lag Unterwürfigkeit nicht, und sie konnte sich nicht überwinden, das Dummchen zu spielen, nur um einer Frau zu gefallen, die Menschen kaufte und verkaufte.
Also schien Hattys Idee, einen Mann zu finden, der sie zur Mätresse wollte, die einzige Lösung zu sein. Einen Ehemann wollte sie nicht; es wäre nicht fair, einen Mann zu heiraten, um ihm gleich wieder wegzulaufen. Aber ein verheirateter Mann, der sich eineMätresse hielt, spielte selbst falsch und hatte es demnach verdient, in die Irre geführt zu werden.
Jeden Abend notierte sich Belle in ihrem Tagebuch sämtliche Kunden und fügte später kurze Anmerkungen hinzu: was sie von dem betreffenden Mann hielt, wie er aussah, wie oft er hierherkam und ob sie seine Favoritin war. Etliche Männer suchten regelmäßig Marthas Haus auf und fragten jedes Mal nach Belle. Sie suchte diejenigen heraus, die sie besonders gern hatte, diejenigen, die ihr Geschenke mitbrachten, und schließlich
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