Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
hatte, Modistin zu werden und ein eigenes Geschäft zu besitzen.
»Sieh mal einer an!«, rief die alte Dame. »Mir ist noch nie jemand begegnet, der lernen wollte, wie man Hüte macht. Die meisten Leute glauben, dass ich sie irgendwo fix und fertig kaufe. Sie wissen nicht, dass es eine wahre Kunst ist, das Material zu formen und dann zu verarbeiten und besticken.«
Belle war bereit, die alte Dame und ihre Produkte über den grünen Klee zu loben, nur damit sie noch länger im Laden bleiben konnte und sich eine Weile nicht mehr ganz so allein fühlenmusste. Sie gestand, dass sie kein Geld hatte, um sich einen Hut zu kaufen, probierte aber ein paar Modelle auf und staunte, wie hervorragend sie gearbeitet waren.
»Schön, sie mal an jemandem zu sehen, der so jung und hübsch ist wie Sie«, meinte die alte Dame. »Nun, ich bin Miss Frank, und ich wollte mir gerade eine Tasse Kaffee machen. Möchten Sie vielleicht auch eine?«
»Ich bin Belle Cooper, und ich würde sehr gern eine Tasse Kaffee trinken«, antwortete sie. Erst nachdem sie mit ihrem Namen herausgeplatzt war, fiel ihr ein, dass sie sich eigentlich Anne Talbot nennen sollte. Ihren richtigen Namen konnte sie jetzt nicht mehr zurücknehmen, aber sie war entschlossen, nicht mehr von sich preiszugeben.
»Ich wollte immer mal nach England«, sagte Miss Frank, als sie im hinteren Teil des Ladens eine Tür öffnete, die in eine kleine Küche führte. »Daraus wird jetzt wohl nichts mehr; ich bin zu alt. Aber König Edward und seinen Palast hätte ich zu gern gesehen. Und dann natürlich den Tower, wo sie früher den Königen und Königinnen die Köpfe abgeschlagen haben.«
»König Edward ist letztes Jahr gestorben, aber mittlerweile ist König George gekrönt worden«, erzählte Belle. »Den Tower kenne ich. Er sieht wirklich ziemlich bedrohlich aus. Bewacht wird er von Männern in rotgoldenen Uniformen, den ›Beefeaters‹. Aber geköpft wird dort niemand mehr.«
»Das höre ich gern«, lachte Miss Frank. »Köpfen wäre nicht gut für mein Geschäft.«
Belle lachte zum ersten Mal, seit sie Marthas Haus verlassen hatte.
»Wie schön, Sie lachen zu hören«, sagte Miss Frank. »Ich dachte mir gleich, als Sie ins Fenster schauten, wie verloren und traurig Sie aussehen. Sie haben wohl Heimweh?«
Belle nickte. Sie brachte kein Wort heraus, weil ihr schon bei der besorgten Frage Tränen in die Augen stiegen.
»Wohnen Sie hier bei Verwandten?« Miss Frank blickte Belleüber ihre Brillengläser hinweg an, während sie Kaffee in eine Kanne löffelte.
Wieder nickte Belle. Als ihr ein kopfförmiges Gestell in der Küche auffiel, fragte sie, ob damit Hüte geformt würden, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
»So ist es. Ich fülle den unteren Teil mit Wasser und lasse es kochen wie in einem Kessel. Dann ziehe ich den Filz über den oberen Teil, so dass er im Dampf seine Form annimmt. Ich habe viele verschiedene Formen für alle Arten von Krempen und Kopfteilen. Wenn wir unseren Kaffee getrunken haben, zeige ich Ihnen, wie es geht, das heißt, falls es Sie interessiert.«
Belle blieb fast eine Stunde in dem Laden, und Miss Frank zeigte ihr alle möglichen Dinge, die zum Herstellen von Hüten benötigt wurden: Bänder und Borten, künstliche Blumen und Federn. Es war wirklich faszinierend, und Belle vertraute ihr an, dass sie früher in England ständig Hüte gezeichnet hatte.
»Wenn Sie wieder einmal Lust haben, welche zu zeichnen, schaue ich mir Ihre Entwürfe gern an«, sagte Miss Frank. »Ich mache das schon so lange, dass mir allmählich die Ideen ausgehen, fürchte ich. Die Besitzerin des Damenbekleidungsgeschäfts Angélique’s in der Royal Street im French Quarter kauft ihre Hüte bei mir, und neulich hat sie zu mir gesagt, dass sie etwas gewagtere Modelle brauchen könnte. Ehrlich gesagt, Belle, ich wusste wirklich nicht, was sie damit meint.«
Belle lächelte. »Ich habe vor Kurzem in einem Journal die neueste Mode aus Paris gesehen«, sagte sie. »Die Hüte, die dort abgebildet waren, waren sehr klein, kaum größer als eine Blume. Einer sah wie ein kleines Nest aus, aus dem ein winziges Vögelchen lugte. Ich nehme an, so etwas hat sie gemeint.«
Miss Frank schüttelte den Kopf, als könnte sie sich nicht vorstellen, dass irgendeine Frau solche Hüte tragen würde. »Bin ich vielleicht schon zu alt? In meiner Jugend gab es schlichte Hauben und Strohhüte mit einem Band und vielleicht ein paar Blumen. Und im Winter hatten wir
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