Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
musste sich von all ihren Kleidern und anderen Habseligkeiten trennen. Das Gute war, dass hundert Francs bestimmt mehr als genug für eine Fahrkarte nach Paris waren und sie Albertines schönes Abendkleid behalten konnte.
*
Am späten Nachmittag fuhr der Zug in Paris ein.
Belle hatte das Glück gehabt, in Marseille einen Wegweiser zum Bahnhof zu entdecken, noch bevor sie den Hafen erreichte. Sie hatte festgestellt, dass er nur ein paar Straßen entfernt war. Um sechs sollte ein Zug nach Paris abfahren, genau in einer halben Stunde, und gerade machte ein Café auf, wo sie sich eine Tasse Kaffee bestellte.
Sie schlief fast sofort ein, als sich der Zug in Bewegung setzte, und wachte erst mittags auf, weil die anderen Leute im Abteil so viel Lärm machten. Sie schienen alle zur selben Familie zu gehören, zwei Frauen Mitte zwanzig, ein junger Mann um die dreißig und ein wesentlich älteres Ehepaar, vermutlich die Eltern. Sie packten etwas zu essen aus einem Korb und redeten lebhaft miteinander. Aber es schien kein Streit zu sein, weil es auch viel Gelächter gab.
Die Mutter sagte etwas zu Belle, wahrscheinlich war es eine Entschuldigung, dass ihre Familie sie geweckt hatte, und bot ihr etwas später ein Stück köstlichen Obstkuchen und danach Brot und Käse an. Belle lächelte und bedankte sich mit dem bisschen Französisch, das sie in den letzten Tagen gelernt hatte, aber sie war froh, dass keiner der anderen Englisch sprach und sie sich nicht verpflichtet fühlen musste, Konversation zu machen.
Erst als der Zug sich langsam Paris näherte, fing sie an, sich Sorgen zu machen. Der Gedanke, ein billiges Quartier, etwas zum Anziehen und Toilettenartikel zu besorgen, ohne Französisch zu sprechen, war beängstigend genug. Noch dazu musste sie Geld verdienen und irgendwelche Papiere auftreiben, um nach England zurückzukommen. In Marseille, wo ein Beamter vom Zoll an Bord gekommen war, um die Papiere der Crew zu überprüfen, hatte es keine Probleme gegeben; Captain Rollins hatte seine Passagiere mit keinem Wort erwähnt und war auch nicht danach gefragt worden. Sowie die Beamten das Schiff verlassen hatten, konnte Belle gehen. Bei der Einreise nach England würde es anders ablaufen, so viel stand fest.
Als sie aus dem Zugfenster auf die flachen, kahlen Felder hinaussah, erinnerte sie sich, dass sie in dem Krankenhaus, in dem sie sich nach der Zeit bei Madame Sondheim aufgehalten hatte, einen ähnlichen Ausblick gehabt hatte. Ob ihr die französische Polizei helfen würde, wenn sie erklärte, was ihr passiert war?
Eine innere Stimme sagte ihr, dass das keine gute Idee war. Hatte sie nicht gelernt, dass sie niemandem trauen konnte?
KAPITEL 27
Die Straßen rund um den Gare de Lyon in Paris waren nur schwach beleuchtet und voller Menschen, die es alle eilig zu haben schienen. Die Gegend wirkte schmutzig und verkommen und viel schlimmer als Marseille, und Belle fühlte sich von jedem Mann bedroht, der in ihre Richtung sah. Noch dazu war es sehr kalt, und es hatte angefangen zu regnen. Hotels gab es jede Menge, aber es ließ sich unmöglich feststellen, welche gut oder schlecht, teuer oder billig, anständig oder fragwürdig waren, weil alle gleich schäbig aussahen. Belle war sich bewusst, dass sie ein Abendkleid unter ihrem Mantel trug und ihre eleganten Schuhe sich nicht für einen langen Marsch auf der Straße eigneten. Außerdem hatte sie Hunger und Durst.
Das war nicht das Paris, das sie sich vorgestellt hatte, mit breiten, von Bäumen gesäumten Boulevards, prachtvollen Gebäuden, reich verzierten Springbrunnen, schönen Geschäften und eleganten Restaurants. Alles war grau und trostlos und erinnerte sie daran, dass das hier die Stadt war, in der sie von fünf Männern vergewaltigt worden war.
Wie hatte sie nur auf die Idee kommen können, dass sie hier etwas Gutes erwartete?
Als Belle an einem Restaurant vorbeikam, blieb sie stehen und spähte hinein. Es war genauso schäbig wie alles andere hier, aber es war sehr voll. Da die meisten Gäste wie gewöhnliche Büroangestellte aussahen, dachte sie, dass man hier vielleicht günstig essen konnte.
Belle setzte sich an einen Tisch zu zwei Mädchen, die nicht viel älter waren als sie. Die beiden waren einfach, aber adrett gekleidet und trugen ihr Haar aus dem Gesicht gekämmt. Belle lächelte siean und sagte Bonsoir . Die Mädchen grüßten zurück, nahmen aber ihre Unterhaltung wieder auf.
Die Speisekarte sagte Belle nichts, und als die Kellnerin kam, zeigte
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