Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
wartete im Dickicht, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und schlich zum Ende des Gartens, wo ein hoher Baum stand. Dort drehte er sich um und begutachtete das Gebäude. Der Mond war drei viertel voll und hell und stand direkt über dem Haus, sodass Etienne erkannte, dass es höher als die angrenzenden Gebäude war. Bis auf einen schwachen Lichtschimmer in einem schmalen Fenster, der vermutlich von der Lampe in der Diele kam, war es dunkel.
Als Nächstes versuchte er es an der Hintertür, die abgesperrt und verriegelt war. Schlösser waren kein Hindernis für ihn, Riegel schon. Er sah sich nach einer anderen Möglichkeit um. Das kleine Fenster neben der Hintertür schien vielversprechend. Etienne trug in einer Lederscheide an seinem Gürtel immer ein kleines, scharfes Messer bei sich, das er jetzt herausnahm. Er schob die dünne Klinge zwischen Fensterrahmen und Scheibe. Nach ein paar Sekunden gelang es ihm, den Bolzen, der die Fensterscheibe verriegelte, anzuheben und das Fenster nach oben zu schieben.
Er kletterte hinein und landete lautlos auf dem Fußboden. Das Haus war genauso geschnitten wie das des Nachbarn, also ging er durch die Küche und den schmalen Gang in die Diele. Obwohl er gewusst hatte, dass dort Licht brannte, erschrak er über die plötzliche Helligkeit und blieb stehen, um zu lauschen. Außer dem Ticken einer Uhr, das aus einem der vorderen Räume zu kommen schien, war nichts zu hören.
Der erste Raum, in den er schaute, war völlig unmöbliert und hatte eine dunkelgrüne Tapete, deren hellere Stellen verrieten, wo einmal Bilder gehangen hatten. Etienne nahm an, dass es einmal das Esszimmer gewesen war. Die zweite Tür führte in einen freundlich eingerichteten Salon mit Bücherregalen an den Wänden. Die Vorhänge waren zugezogen, und nach einem kurzen Blick in den Raum machte er die Tür wieder zu und ging nach oben weiter. Ihm fiel auf, dass der Bodenbelag auf der Treppe und die Bilder an der Wand nicht zu dem guten Geschmack passten, mit dem der Rest des Hauses eingerichtet war. Der Teppich war knallrot und sah dünn und billig aus, und die Bilder gehörten zu der Sorte, die man für zwanzig Francs auf dem Flohmarkt kaufen konnte. Das war vermutlich Pascals Beitrag.
Er war erst auf der fünften Stufe, als er ein Geräusch hörte. Er blieb stehen und lauschte. Es klang fast, als würde ein Hund knurren, aber er spürte, dass es ein Mensch war, und es kam von ganz oben im Haus. Etienne war schon immer leichtfüßig gewesen – man sagte ihm oft, wie enervierend es war, dass man ihn nie kommen hörte –, aber bis jetzt hatte er sich keine Mühe gegeben, sich geräuschlos zu bewegen. Doch wie es schien, war das Haus keineswegs leer.
Auf Zehenspitzen schlich er weiter. Als eine Stufe knarrte, blieb er sofort stehen und lauschte. Wieder war das Knurren zu hören, und als er auf dem ersten Treppenabsatz war, kamen rhythmische dumpfe Laute hinzu. Beide Geräusche konnten möglicherweise von jemandem stammen, der gefesselt und geknebelt war, und vielleicht wurde Belle in einem der oberen Räume gefangen gehalten.Aber so gern Etienne auch hinaufgerannt wäre, er wusste, dass er vorsichtig sein musste. Er zog sein Messer und ging leise weiter, jederzeit bereit, einen Angriff abzuwehren.
In den vierten Stock drang kaum noch Licht von der Diele, aber als er über das Treppengeländer nach oben spähte, bemerkte er dort einen schmalen Lichtstreifen. Das dumpfe Klatschen war jetzt viel lauter, und plötzlich wurde ihm bewusst, was er da hörte. Noch dazu erkannte er in den gurgelnden Lauten die Geräusche, die jemand von sich gab, der geknebelt war, und er war sicher, dass es sich bei der betreffenden Person um Belle handelte.
Wutentbrannt schlug er alle Vorsicht in den Wind, rannte so schnell er konnte die letzten Stufen hinauf und warf sich mit der Schulter gegen die Tür, hinter der Licht zu sehen war. Die Tür erbebte mitsamt dem Rahmen, und beim nächsten Anlauf barst das Schloss, und sie flog auf.
Bei dem Anblick, der sich ihm bot, drehte sich Etienne der Magen um. Pascal war schon vom Bett gesprungen und zur Wand zurückgewichen. Er hielt Belle wie einen Schild vor sich.
Sie war nackt, ihr Gesicht kreidebleich und verzerrt vor Angst. Blut lief über ihren Bauch und an ihren Beinen hinunter, und in ihrem Mund steckte eine Art Knebel. Pascal hielt ihr ein Messer an die Kehle.
Ihre Augen starrten Etienne fassungslos an.
»Ein Schritt näher, und ich schlitze ihr von
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