Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
dass er ihr wirklich die Sehenswürdigkeiten New Yorks zeigen oder ihr erlauben wollte, eine Postkarte nach Hause zu schicken? War es nicht viel wahrscheinlicher, dass er sie an einen schrecklichen Ort brachte, noch schlimmer als das Bordell in Paris? Warum um Himmels willen hatte sie angefangen, ihm zu vertrauen?
Etienne sprach kein Wort mit ihr, als sie zusammengekrümmt auf dem Boden kauerten, und weil Belle befürchtete, sich noch mehr in Gefahr zu bringen, wenn sie etwas sagte, schwieg auch sie.
Sie waren ungefähr eine halbe Stunde auf dem Boot, als plötzlich helles Licht durch die Fenster des Ruderhauses fiel und Belle laute Männerstimmen hörte.
»Wir nähern uns dem Kai. Sie werden jeden Moment anlegen«, flüsterte Etienne. »Wir bleiben hier drinnen, bis sie uns sagen, dass die Luft rein ist.«
»Wo gehen wir hin?«, flüsterte sie ängstlich zurück.
»In ein Hotel, wie ich es dir gesagt habe«, antwortete er. »Ichhabe dir nicht erzählt, auf welchem Weg wir nach New York kommen würden, weil ich nicht wollte, dass du in Panik gerätst.«
»Und wenn man uns nun erwischt?«, wisperte sie. »Kommen wir dann nicht ins Gefängnis?«
Er nahm ihre Hände in seine und streifte ihre Fingerspitzen mit einem flüchtigen Kuss. Seine Augen glitzerten vor Übermut. »Ich werde nie erwischt. Daheim in Frankreich nennt man mich › L’Ombre‹ , das bedeutet ›der Schatten‹.«
»Sie wären ein guter Fremdenführer«, sagte Belle, als sie über die Planke des kleinen Boots gingen, mit dem sie hinausgefahren waren, um die Freiheitsstatue zu sehen. »Vielleicht sollten Sie lieber diesen Beruf ergreifen, statt für schlechte Menschen zu arbeiten.«
Es dämmerte schon, und allmählich wurde es sehr kalt, aber die letzten beiden Tage waren schön und sonnig gewesen, und sie waren kilometerweit gewandert und hatten viel gesehen: das Flat Iron Building, New Yorks ersten Wolkenkratzer, die Brooklyn Bridge, den Central Park … und sie waren mit der Hochbahn gefahren. Belle hatte ihren ersten Hot Dog gegessen und die eleganten Geschäfte in der Fifth Avenue bestaunt, aber auch genug düstere, überfüllte Mietskasernen gesehen, um zu erkennen, dass es hier in Amerika noch mehr Armut gab als daheim.
Etienne hatte Wort gehalten und sie von dem Fischkutter zu einer Pension auf der Lower East Side gebracht. Obwohl die Gegend genauso trostlos wirkte wie Seven Dials und bestimmt nicht dem Bild gerecht wurde, das man sich in England von dem Leben in Amerika machte, war die Pension komfortabel und warm, mit Dampfheizung, fließend warmem Wasser und Innentoiletten.
»Es hat Spaß gemacht, dich herumzuführen«, sagte Etienne. »Ich wünschte, wir hätten ein bisschen mehr Zeit; es gibt noch so viel zu sehen. Wenn ich wieder in Frankreich bin, bleibt mir nichts anderes übrig, als mit dieser Art Arbeit weiterzumachen, aber wenn wir in New Orleans sind, versuche ich, bei deiner neuen Herrin ein gutes Wort für dich einzulegen.«
Belle, die sich bei ihm eingehängt hatte, drückte seinen Arm. Sie wusste, dass er wegen seines eigenen Anteils an ihrer Gefangennahme wirklich ein schlechtes Gewissen hatte. Und sie wusste, warum er nicht anders handeln konnte, da er ihr endlich seine Geschichte erzählt hatte.
Er war in Marseille geboren und aufgewachsen, aber seine Mutter starb, als er sechs war, und sein Vater fing an zu trinken. Zuerst stahl Etienne aus reiner Not. Sein Vater gab jeden Penny, den er verdiente, fürs Trinken aus, und irgendjemand musste Essen auf den Tisch stellen, etwas zum Anziehen beschaffen und die Miete für ihre zwei Zimmer bezahlen.
Mit vierzehn war er bereits ein geschickter Einbrecher und nahm sich all die prächtigen Luxushotels an der Riviera vor, wo die sehr Reichen abstiegen. Er raubte Schmuck, den er dann für einen Bruchteil seines wahren Werts an einen der vielen kleinen Juweliere in den engen Hafengassen verkaufte.
Als er achtzehn war, wurde er eines Nachts auf frischer Tat von einem Mann ertappt, der, wie sich herausstellte, durch Erpressung zum Millionär geworden war. Etienne hatte nun die Wahl: Entweder er arbeitete für diesen Mann – er nannte ihn Jacques, weil er seinen richtigen Namen nicht verraten durfte –, oder er würde an die Polizei ausgeliefert werden, die zweifellos dafür sorgen würde, dass Etienne eine extrem lange Haftstrafe bekäme, schließlich führte er sie schon seit Jahren an der Nase herum.
Etienne erklärte Belle, dass er sich damals für den größten
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