Doctor Boff - Weiberkranckheiten
ihnen in den Räumen ins Auge stach. Manchmal ließen sie sich zum Essen einladen. Boff hatte von einem Pillendreher gehört, der seit vier Jahren im Haus einer Witwe wohnte und mit ihr zwei Kinder hatte. Aber sie waren nicht verheiratet und taten so, als würden sie sich kaum kennen. Übrigens war die Witwe immer noch krank, wenn auch die Art des Gebrechens gewechselt hatte. Sie hatte dem Pillendreher Geld geliehen, damit er neue Medizin herstellen und verkaufen konnte. Er brachte ein Zehntel von dem herein, was sie für ihn ausgab.
Die ersten Besuche in Glaucha, Heimat der Armen südlich der Stadt, würde Boff nie vergessen. Äußerlich merkte man ihm nichts an, er war beherrscht und zielstrebig und konnte in einem Fall nachhaltig helfen. Aber dieses Elend! Sie hatten nichts, absolut nichts. Sie hatten keine Matratze und keine Decke, um sich Wärme zu verschaffen. Heizmaterial gab es auch nicht. Die Fenster waren Löcher in der Wand ohne Glas,ohne Fensterladen, selbst ein Tuch fehlte. Man konnte den Leuten quer durch die Wohnung sehen, die aus zwei Räumen bestand, in denen acht Menschen lebten, von denen einer auf den Tod darnieder lag und zwei Kinder seit Wochen husteten. Das Wasser musste vom Brunnen geholt werden, Schwerstarbeit für kranke Menschen. Freche Jungen machten sich einen Spaß daraus, die gefüllten Eimer umzuwerfen, aber erst wenige Schritte, bevor die rettende Tür erreicht war. Boff spürte, wie Zorn in ihm aufstieg. Wegen der Gemeinheiten natürlich, aber es war auch der Tonfall, in dem man ihm berichtete. Die Kranken hier waren so ergeben und leise, sie hielten den Blick gesenkt und konnten ihm keinen Stuhl anbieten, an Essen und Trinken war nicht zu denken. Der Vater leerte in der Stadt die Latrinen, eine Tochter versorgte in einem Haushalt Kinder. Der Verdienst war winzig, aus anderen Quellen kam nichts herein. Aber sie waren ergeben und beklagten sich nicht. In jedem Raum hing ein Kreuz, sie liebten den Herrn, dem sie verdankten, dass sie mit so vielen Kindern beschenkt worden waren. Der Herr war ein gerechter Gott, denn sie hungerten zwar, aber daran starb man nicht. Man hatte nur nie genug zu essen. Aber man war zufrieden, und ein Nachbar, der sich beklagt hatte und die Herren und Fürsten an den Galgen gewünscht hatte, war kurz darauf von einem durchgegangenen Pferd in Grund und Boden getreten worden.
»Ihr braucht Licht«, sagte Boff. »Frische Luft, besseres Essen. Hier ist alles dreckig, ihr werdet nie gesund, ihr steckt euch ständig wieder an. Du da, wie alt bist du? Zwölf? Dreizehn? Du kannst arbeiten, du siehst kräftig aus.«
Der Junge zog Passanten auf den Märkten das Geld aus der Tasche und lief schneller als seine Verfolger. Seine Familie wollte ihn daran hindern, dem Doctor alles zu verraten, aber der Junge war stolz auf seine Missetaten. »Ich verdiene mehr als mein Vater«, behauptete er, »wenn ich groß bin, geht es uns gut.«
Boff zweifelte nicht daran, dass er sterben würde, bevor er groß war. Die Städte wimmelten von solchen Jungen, die einige Zeit durchkamen, bevor sie an jemanden gerieten, der noch fixer war und sie zu Sklaven machte und in gefährliche Abenteuer schickte, die sie in den Kerker führten. Für solche Jungen existierte kein Recht. Man schlug ihnen mit der Faust ins Gesicht, mit dem Stock in die Nieren; man warf sie ins Wasser oder zwang sie, so viel Branntwein zu trinken, bis sie bewusstlos wurden und in einer eiskalten Nacht im Freien erfroren.
Und ständig hustete jemand in dieser Wohnung. Das Husten verfolgte Boff. Er war nicht zart besaitet, kein Arzt darf zart besaitet sein, weil er sonst kein guter Arzt ist. Aber er war nicht vorbereitet gewesen, er hatte sich eingeredet, er werde auf Schmutz und Dummheit und zerrissene Polster treffen. Schimmliges Brot. Halb so schlimm. Maden im Käse. Davon stirbt man nicht, man klopft die Maden heraus und dann frisst sie der Hund. Aber das Wasser hatte gerochen, und alle hatten gefroren, und als sie ihm die Latrine gezeigt hatten, hatte Boff den Atem angehalten. Die Ratten waren so zahm, dass sie nicht flüchteten. Eins der Mädchen würde zur Hure werden und an einer Geschlechtskrankheit sterben, das andere würde mit dreizehn zum ersten Mal Mutter werden, und der kleine Junge würde von einem mitleidigen Priester in die Klosterschule mitgenommen werden, wo ihn die Hölle erwartete.
Diese Menschen lebten ohne Hoffnung, und sie beklagten sich nicht. Boff hatte sich vor dem Moment gefürchtet, in dem
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