Doctor Boff - Weiberkranckheiten
ihn der Vater fragte: »Was sollen wir tun, damit wir besser leben?«
Er hätte ihnen raten müssen, zehn Gesetze auf einmal zu brechen und zuerst die verdammten Kreuze von der Wand zu nehmen. Alles, was geduldig machte, war des Teufels. Und dass vom Teufel erst die Rede war, seitdem es einen Gott gab, ließ Boff seit vielen Jahren keine Ruhe.
»Ihr geht nicht mehr in diese Häuser«, sagte Hermine später. »Ihr meint es gut, aber Ihr müsst abwägen. Ihr könnt vielen Menschen helfen, aber dazu müsst Ihr gesund sein. Ein kranker Doctor ist so nutzlos wie ein krankes Pferd. Man muss es töten.«
»Übertreibt nicht, Hermine.«
»Ich wollte sehen, wie es sich anfühlt, diese Worte zu sagen.« Sie tat so, als würde sie scherzen, aber Boff registrierte sehr wohl, dass sie vorhatte, selbst in die Häuser zu gehen. Sein Amt zwang ihn nicht, seine Gesundheit aufs Spiel zu setzen, jedenfalls nicht außerhalb von Seuchen und Pest. Aber es zwang ihn, Verantwortung für seine Untergebenen zu übernehmen. Er verbot Hermine, einen Fuß in diese Häuser zu setzen. Sie begann zu streiten und gefiel sich darin, die schlimmsten Zustände zu schildern, in die sie als Hebamme geraten war. Er erinnerte sie daran, dass er sie nicht als Hebamme angestellt hatte. Sie erinnerte ihn daran, dass sie in allen Fällen von Milchstockung und böser Brust hilfreich war.
»Ihr solltet mich nicht unter Wert verkaufen. Ich bin gern für Euch die Hand. Aber ich bin auch Hebamme. Wenn die Frauen wüssten, dass sie bei uns beides kriegen, den Doctor und die Hebamme, würden noch mehr kommen.«
»Kommen denn nicht schon genug?«
»Wenn die Frauen wissen, dass sie bei uns beides kriegen, sind wir für sie wichtiger. Das ist etwas anderes, als wenn doppelt so viele vor der Tür stehen. Die, die kommen, sollen wissen, dass hier nicht nur ihr Fieber und ihre Brust behandelt werden. Sondern beides und noch mehr. Dass wir für sie da sind, weil sie Menschen sind und nicht, weil sie Patienten sind.«
»Ich könnte ihnen die Nägel schneiden!«, krähte Stine frohgemut. Boff überlegte, ob sie ihm nicht besser gefallen hatte, als sie eingeschüchtert und still gewesen war.
17
An diesem Abend kümmerte sich Doctor Boff zum ersten Mal um das Haus, in dem er wohnte und arbeitete. Bisher kannte er das Erdgeschoss, das war seine Praxis. Er kannte die erste Etage, das war seine Wohnung. Aber auf der anderen Seite des Flurs lag noch eine Wohnung, hier wohnte der Mann, der es immer eilig hatte. Er musste aufs Rathaus oder kam vom Rathaus. Er grüßte, aber stets im Laufschritt. Nie hatte er angehalten, um Boff die Hand zu schütteln. Nie unfreundlich, immer in Eile. Er war zu eilig, um schlechte Laune zeigen zu können. Es gab wohl keine Frau zu dem Mann und keine Kinder. Auch einen Bediensteten hatte Boff noch nicht bemerkt.
Die zweite Etage: zwei Wohnungen. In der einen lebte die Familie von Justus Sperling, der an der Universität beschäftigt war, aber wohl nicht als Lehrer oder Professor. Seine Frau tat mildtätige Werke und dies mit voller Kraft. Was der Eilige zu wenig redete, tat sie im Übermaß. Und stets stand sie im Zentrum des Lichts. Sie liebte sich für ihre guten Taten, sie war sehr evangelisch. Hätten die Protestanten einen Papst gehabt, sie wäre die Frau gewesen, von der er Ratschläge annahm – und sei es nur, weil man sie auf andere Art nicht zum Schweigen brachte.
Die dritte Etage: drei Türen. Stine wurde herbeigerufen. Zuerst tat sie so, als wisse sie nicht, ob überhaupt jemand im Haus lebte. Als Boff ihr klarmachte, wie wichtig ihr Wissen sei, legte sie den Schalter um. Nun sprudelte es aus der einerseits so redlichen, andererseits unbändig neugierigen Frau heraus. Endlich einmal mit gutem Gewissen sich zur eigenen Neugier bekennen zu dürfen! Für Boff blieb die Anstrengung, das Wichtige vom Unwichtigen zu scheiden. Es wäre ihm leichtergefallen, hätte Stine ihn nicht mit einer Unmenge Fakten überschüttet. Was diese Frau alles wusste! Immerhin verbrachte sie den größten Teil des Tages in der Praxis. Woher nahm sie Zeit und Gelegenheit zu wissen, welche Wäsche die Bewohner besaßen? Wann sie wuschen und wo sie trockneten? Woher wusste sie, dass im dritten Stock eine fremde Frau an der Tür des Künstlers klopfte? Was wollte der Mann, der auf dem Gericht für die Protokolle zuständig war, bei Frau Sperling? Da sie nur den Herrn liebte und ein wenig auch sich selbst, blieb für außereheliche Gelüste kein Raum. Warum
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