Doctor Boff - Weiberkranckheiten
Hund, heulte, verwüstete ihre Haare und verbrachte Tage im Bett. Aber sie erholte sich immer wieder, denn Rosanna liebte das Leben. Sie war laut und benahm sich wie eine Italienerin, die sie nicht war. Rosanna hieß sie erst seit zehn Jahren. Sie ging oft ins Theater, verkehrte mit Gauklertruppen und pflegte eine romantische Sehnsucht nach einem Leben auf der Straße. Realitätssinn und verträumte Seiten tarierte sie mühsam aus. Sie war die einzige aus dem Haus, die den neuen Doctor am zweiten Tag persönlich begrüßt hatte. Bevor sie nach kurzer Plauderei ging, hatte sie unvermittelt beide Hände auf Boffs Kopf gelegt und war dann mit den Händen über seinen Kopf gefahren. Boff hielt das für eine Marotte der überkandidelten Frau. Umso größer war die Überraschung, als sie ihm später einen Hut schenkte. Die Prüfung mit den Händen war Rosannas Art der Anprobe gewesen. Geld wollte sie nicht nehmen und drohte Boff mit lebenslanger Feindschaft, sollte er nicht sofort das Thema wechseln. Den Hut hielt er in Ehren.Vielleicht war er die erste Kopfbedeckung, mit der er sich anfreunden würde.
Eine Nachbarin wie Rosanna war eine Freude. Manchmal sah man sie im Gasthaus sitzen. Wenn die Stimmung auf dem Höhepunkt war, sang sie italienische Lieder, und wenn ein Zuhörer behauptete, diese Lieder noch nie in Italien gehört zu haben, rief Rosanna ihm zu, er solle kein Miesepeter sein.
Vierter Stock rechts. Hier war der Sitz der »Hansischen Botschaft«. Ein Kaufmann aus Lübeck und eine Marketenderin aus Einbeck hatten sich vor langer Zeit in wilder Ehe zusammengetan und gefielen sich darin, die verwelkten Wurzeln des historischen Städtebundes der Hanse liebevoll zu begießen. Beide waren fanatische Briefeschreiber, sie korrespondierten ausführlich mit fast allen Hansestädten. Nur mit dem niedersächsischen Uelzen nicht, denn dort konnte man nicht lesen und schreiben.
Den meisten Menschen erschloss sich der Sinn dieser Botschaft nicht, denn die beiden hatten davon offenbar keine materiellen Vorteile. In ihrer Wohnung von drei Zimmern, die unter Papierbergen ächzte, fanden sich kaum Geschenke aus den Hansestädten. Reisen, die sie regelmäßig unternahmen, wurden auf eigene Kosten durchgeführt. Familiäre Verbindungen existierten nicht. So blieb als einzige Erklärung eine sympathische Marotte. Sie schädigten niemanden, deshalb interessierte es auch niemanden. Halle, die frühere Hansestadt, hatte genug mit der Gegenwart und Zukunft zu tun. Da blieb keine Kraft, um Erinnerungen an vergangene Zeiten nachzuhängen. Man wusste, dass die Botschafter von einer Schiffsreise auf dem Baltischen Meer träumten. Die Insel Gotland hatte es ihnen angetan, von ihr hingen Pläne und Karten an den Wänden, eine gerahmte Karte sogar im Hausflur.
Über dem Hutatelier und der Botschaft befand sich der Dachboden. Er bestand aus der Kemenate, die Hermine in Beschlag genommen hatte, und dem weitläufigen Bodenraum,in dem die Bewohner Wäsche trockneten. Hermine gefiel der Geruch nach Frische und Sauberkeit. Eine Strippe war immer belegt, an manchen Tagen war alles voll, und weil dann durch Herausziehen von Ziegeln für Durchzug gesorgt wurde, wiegte sich der Raum wie Wellen im Meer.
»Mehr weiß ich nicht«, behauptete Stine. Sie wusste mehr, aber das war so vertraulich und teilweise so unanständig, dass sie es weder dem Doctor noch überhaupt einem Mann erzählen konnte. Es sei denn, man würde sie eindringlich darum ersuchen. Dass das Haus der Stadt gehörte, wie Boff unterstellte, ließ Stine unkommentiert so stehen. Sie sagte ja auch nichts dazu, dass man ihm die Wohnung zum Freundschaftspreis überlassen hatte und die Praxis mietfrei war.
18
Zweimal pro Woche fand Doctor Boff Zeit und Gelegenheit, ins Fachwerkhaus der verwirrten Gräfin Argus zu fahren. Es hatte sich ergeben, dass der umtriebige Bote, versierter Überbringer schriftlicher Nachrichten, auch lebendige Ware ans Ziel brachte. Er holte den Doctor in Halle ab und brachte ihn am späten Abend wieder zurück. Boff wusste nicht, wo er sich aufhielt, während er bei der Gräfin weilte. Sie erwartete ihren Gast jedes Mal voller Freude. Das Missverständnis vom lange vermissten und nun zurückgekehrten Sohn hatte Boff nur am ersten Abend behutsam zu relativieren versucht. Dann hatte er den Irrtum weiterleben lassen und versprach sich von der auf diese Weise hergestellten Vertraulichkeit Vorteile für weitere Gespräche. Denn er suchte nach der Ursache für die
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