Doctor Boff - Weiberkranckheiten
Verwirrung der Gräfin. Zwei Möglichkeiten kamen in Frage: Die Gräfin war alt, ihr Geist war verwirrt und würde sich nie wieder erholen. Dann war sie nicht krank, sondern nur alt. Oder es würde sich ein Ereignis finden, das Schock, Schreck, Furcht, bewusst herbeigeführtes Vergessen ausgelöst hatte, weil anderenfalls ein Weiterleben nicht möglich gewesen wäre.
Sie nannte ihn »mein Sohn« und »Leopold«, sie hielt seine Hand, wenn sie sich gegenübersaßen, sie im harten Sessel, den sie dem gemütlichen Sofa vorzog, der Doctor auf einem Stuhl. Er sah, wie sehr seine Gegenwart die Gräfin belebte. Er tat ihr gut, wenngleich sie ihn für jemand hielt, der er nicht war. Sie sprach über ihre Familie, alles, was sie in Worte fasste, war Familie. Wenn sie ein Leben außerhalb der Sippe geführt hatte, war es ihr nicht wichtig oder entfallen. Er fragte viel und wollte nicht warten, bis sie von selbst darauf kam. Er kannte die Wege, sich Menschen anzunähern: mit Charme und Neugier, Interesseund den Schwindeleien von Mimik und Gestik. Mit dem Gesichtsausdruck ließen sich Menschen lenken, kaum jemand besaß darin mehr Übung als der Doctor. Die Gräfin verriet ihm mehr als sie wusste oder wollte. Er konnte Themen vertiefen, sie von allen Seiten beleuchten; konnte eine Person in die erste Reihe holen, sie so lange ausweiden, bis sie verbraucht und die nächste an der Reihe war. Er sah, worauf sie ansprang und was sie kalt ließ; sah, was sie erregte und was sie langweilte.
Stets stand ihr Sohn, der Graf, an vorderster Stelle. Er war das Oberhaupt der Familie, selbst als der alte Graf noch gelebt hatte, war der Sohn schon dominierend gewesen. Er war der gute Sohn, der sich um jeden kümmerte und um die Mutter besonders. Schulden? Keine Rede. Streit mit Verwandten? Nicht in dieser Sippe. Krankheiten? Auch peinliche Krankheiten, über die man nicht spricht, über die man aber sprechen muss, solange sie noch behandelbar sind? Sie wusste, worauf er anspielte, und tat so, als ob es keinen Argus mit Geschlechtsteilen gäbe.
Wenn der Doctor aufbrechen musste, wurde sie aufgeregt und zeigte ihm das Zimmer, das für ihn hergerichtet worden war.
Später, als Boff mit dem Grafen unter vier Augen sprach, sagte er: »Schlagt Euch das aus dem Kopf. Ich bin kein Gesellschafter und ein Sohn schon gar nicht. Ich habe einen Beruf, deshalb bin ich hier.«
Argus bat ihn, sich zu beruhigen. So sei das alles nicht gemeint, die Spielregeln seien vollkommen klar. Aber die Gräfin habe nun mal einen starken Willen und wisse ihn durchzusetzen. Er, der Graf, sehe sich nicht in der Lage, sie so weit zu entmündigen, dass die Bediensteten ihre Anordnungen nicht mehr befolgten. Ihnen hatte sie aufgetragen, ein Zimmer für Leopold herzurichten. Argus hatte davon angeblich erst erfahren, als alles eingerichtet war. Einerseits fand Boff das rührend. Aber ihm war gleichzeitig bewusst, dass die Gräfin, anstattaus ihrer eigenen Welt zurückzukehren, sich immer weiter verrannte. Argus beteuerte, dass sich seine Mutter positiv entwickelt habe. Seit Jahren sei sie nicht mehr so präsent und ansprechbar gewesen. Aber wenn es doch keinen Leopold mehr gäbe? Argus bat um Geduld und zwei Monate, nach deren Ablauf man Bilanz ziehen wolle. Bezahlt werde Boff natürlich weiter. Boff stellte klar, dass er die Hälfte des Geldes für gute Zwecke weiterreichen werde. Das war Argus so gleichgültig, dass er nichts dazu sagte.
Dann begann das Ausfragen. Argus wollte alles wissen, jede Frage, jede Antwort, jedes Zögern und Lachen. Der überrumpelte Boff antwortete gehorsam, bis ihm klar wurde, was er tat. Er berief sich auf das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patientin. Argus setzte die Verantwortung des Sohns für seine Mutter dagegen und behauptete, viele Worte besser einschätzen zu können, weil Boff der Hintergrund fehlte. Boff bat um Verständnis, Argus bat um Verständnis, minutenlang verhärtete sich das Gespräch.
»Was hat mein Vorgänger gesagt?«, fragte Boff unvermittelt.
Die Frage traf Argus auf dem falschen Fuß. Er lavierte, bis Boff deutlicher wurde: »Ihr seid sehr besorgt um Eure Frau Mutter. Ihr Zustand ist nicht erst seit letzter Woche besorgniserregend. Ich würde es naheliegend finden, dass Ihr ärztlichen Rat gesucht habt. Und bei Euren Möglichkeiten wohl den besten Rat, der in Halle zu haben ist.«
»Wir haben viele Ärzte, einige von ihnen sind erstklassig in ihrem Fach.«
»Es liegt also an mir.«
»Ich verstehe Euch
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