Doctor Boff - Weiberkranckheiten
umflatterte den Stuhl, rief Namen und Instrumente, die der Zahnreißer in die Luft hielt. Sie machten aus der Folter eine Inszenierung!
Der Zahnreißer streckte die Hand zur Begrüßung aus, der Bürgermeister starrte die Hand an, er stand auf, blickte auf die Menge und wandte den Blick ab, die vielen Köpfe verursachten ihm Schwindelgefühle.
»Auf gutes Gelingen«, sagte der Zahnreißer. Der Bürgermeister suchte nach dem Hintersinn. Spottete er? Drohte er? Aber der Mann sah konzentriert aus, wie einer, der wusste, was ihm bevorstand, und sich zutraute, die Aufgabe zu bewältigen.
Der Bürgermeister ging im Stuhl in Deckung, er öffnete den Mund, der Zahnreißer blickte hinein, sprach leise zum Papagei, der alles in die Welt hinausgrölte. Es war ein Theaterstück. Zwei Schauspieler und ein Ausrufer. Ganz klassisch. Gar nicht klassisch war, was der Bürgermeister zu hören bekam. In seinem Mund tobte offenbar ein Krieg. Unsichtbare Armeen waren über sein Zahnfleisch hergefallen, die feindlichen Armeen mussten keinen Hunger leiden, denn zwischen den Zähnen fanden sie genügend Nahrungsmittel für zwei Jahre. Der Bürgermeister verging vor Scham. Niemand auf der Welt putzte sich regelmäßig die Zähne. Er hatte nicht genug Zeit gehabt, die fünf Minuten für die Zahnpflege hatten oft gefehlt. Immer war die Arbeit wichtiger gewesen. Der Einsatz für die Halleschen Bürger hatte ihn seine Zähne gekostet. Selbst als die Schmerzen begonnen hatten, einige Jahre lag das zurück, hatte er sein Verhalten nicht verändert.
»Werde ich leben?«, flüsterte er dem Zahnreißer zu. Der Mann roch gut, nicht stark, aber gut. Der Bürgermeister musste seinen Folterer zentimeterdicht vor der Nase erdulden.Unvorstellbar, wenn er gestunken hätte, etwa so faulig wie der Bürgermeister. Das war ein weiterer Grund für die vielen Schnäpse, sie deckten die Fäulnis zu.
»Ihr werdet über die Wiese springen wie ein Füllen«, behauptete der Folterer. »Die Frauen werden Eure Gesellschaft suchen, und die Kinder werden sich nicht mehr die Nasen zuhalten.«
Wenn der Folterer ihm etwas in den Mund stecken wollte, zeigte er es dem Bürgermeister vorher. Zuerst fand der das völlig sinnlos. Der Folterer machte sich einen Spaß … aber es war gut, doch, doch. Es war eine Geste, die den Bürgermeister tröstete. Schneidewind, der Hund, hatte am liebsten bei zugezogenen Vorhängen gearbeitet. Der hier spielte mit offenen Karten, zeigte her, kündigte an, was er machen wollte; kündigte an, was für ein Gefühl der Patient haben würde; sogar Schmerz sagte er voraus! War der Mann denn lebensmüde! Aber er hatte immer recht, stets trat alles ein wie prophezeit. Er schimpfte nicht, wenn der Patient stöhnte, verfluchte ihn nicht, nannte ihn nicht »Weib« oder »Schindmähre«. Schneidewind hatte ihn sogar gegen die Arme geknufft. Hinterher hatte er so getan, als sei alles zum Besten des Patienten passiert.
Und schnell ging es hier, das war besonders tröstlich. Der Folterer arbeitete wie im Galopp, wirkte dabei aber nicht hektisch. Der Bürgermeister musste auf ein Tuch beißen, das Tuch war nass, Nässe floss auf Zähne und Fleisch. Es roch stark, aber nicht ekelhaft, dafür sehr fremd. Der Geruch benebelte, aber nicht zu sehr. Der Bürgermeister fühlte sich wie nach einem Schnaps, aber es schmeckte nicht wie Schnaps. Dann wurde an seinem Fleisch gearbeitet, wie aus weiter Entfernung sah er, was er spürte. Der Folterer schabte das Fleisch ab, streifte es draußen auf ein Tuch, schabte weiter, und der Papagei informierte die Menge, was für Fleischvorräte ihr Bürgermeister mit sich herumtragen würde. Die nächste Hungersnot würde Halle vorbereitet finden. Die Menge lachte, aber der Papagei machte den Patienten nicht lächerlich. Er nahm der schmerzhaftenProzedur die Spitze. Natürlich musste es wehtun, der Bürgermeister hatte das in jeder Sekunde gewusst, aber akzeptiert hatte er es nie. Jetzt tat er es, jetzt war der Schmerz ein Schritt, aber er war nicht der ganze Weg, war nicht der Anfang und das Ende. Schmerz füllte ihn aus, aber er ertrug ihn und wunderte sich, warum die Bewegungen des Folterers so kundig wirkten. Er arbeitete nicht für die Galerie, nicht einmal für den Bürgermeister. Er stand vor einer Aufgabe und arbeitete sie ab: zielstrebig, schnell und ruhig.
Zwischendurch hielt der Reißer inne, damit der Bürgermeister dem Papagei sagen konnte, wie er sich fühlte. Halb betäubt, wie er war, fiel die Antwort
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