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Doctor Boff - Weiberkranckheiten

Doctor Boff - Weiberkranckheiten

Titel: Doctor Boff - Weiberkranckheiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Klugmann
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Halle austauschte. Die meisten Pastoren mahnten zu Besonnenheit, aber sie gaben auch zu, dass ein gebrochenes Bein oder ein ausgelaufenes Auge es dem Gläubigen nicht leicht machte, Besonnenheit zu zeigen. Über allem thronte die himmlische Vernunft, die klüger war als der klügste Mensch auf Erden. Aber es gab auch eine irdische Vernunft, die im Rathaus versammelt war. Dass bisweilen Streit aufflamme, sei kein Unglück – vorausgesetzt, der Streit werde zu einem Ende geführt, in dem sich die Menschen wiedererkennen könnten. Dass ein Kranker Beistand brauche, sei das kleine Einmaleins der Barmherzigkeit. Jesus Christus wäre mit feurigem Schwert dazwischengefahren, wenn sich eine Gruppe auf Kosten einer anderen Gruppe bereichert hätte. Nicht um Geld und Einfluss ginge es jetzt, sondern darum, dass, wer Schmerz leiden würde, seinen Schmerz verlieren würde; und der, der Angst verspürte, brauchte einen Ort, wo er Balsam für den Körper erfahren könne. Denn wo es Balsam für die Seele zu erlangen gebe, wüsste jeder, der jemals den Fuß in einen Kirchenraum gesetzt habe. Sie schlawinerten sich durch die Predigtlogik. Kein Pastor gestand seine Befürchtung, in diesen Stunden einen Unfall zu erleiden oder von Zahnschmerz getroffen zu werden. So wie die Kanzel hoch über den Köpfen der Menschen angebracht war, schwebten die Worte der Predigten über den alltäglichen Sorgen der Menschen. Die Menschenfischer hatten ihre Netze vergessen.
    Hallesche Frömmigkeit besaß über alle Stadtgrenzen hinweg eine Gemeinsamkeit mit den Gottesdiensten anderer Städte: Sie überschnitten sich nicht mit den Essenszeiten. Und so plauderte man nach dem Gottesdienst noch einige Minuten vor der Kirche mit Nachbarn und Bekannten – selten über Kirchliches, gerne über Handfestes. Heute gab es nur ein Thema, und es reichte für mehr als die rituellen fünf Minuten. Würde die Obrigkeit ihre Ankündigung wahrmachen? Wo würde man hingehen, wenn der Zustand einen Arzt erforderlich machte? Was würden die Heiler tun? Würden die verbleibenden Ärzte für alle Bewohner ausreichen? Würden die Patienten geduldig warten, auch wenn sie morgens kämen und erst nachmittags den Doctor sehen würden? Würden die Ärzte stark genug für lange Arbeitszeiten sein? Würden sie falsche Diagnosen stellen und die Patienten nicht nur nach Hause, sondern in den Tod schicken? Die Menschen liebten es, sich das Schlimmste auszumalen. Es war ja nicht weit von ihrer Lebenswirklichkeit entfernt. Vereinzelt erlebte man Szenen des Abschieds. Menschen umarmten sich, versicherten sich ihrer Sympathie und versprachen einander, die Gräber zu pflegen. Manchmal brachen sie ab, wenn der Pastor die Grüppchen abklapperte und eitel erwartete, für seine Predigt gelobt zu werden. Niemand erinnerte sich noch an seine Predigt, jedermann dachte an morgen und ob es ein übermorgen geben würde.
    Was würden die Reichen tun? Würden die verbleibenden Ärzte wie seit Jahrhunderten in die Häuser ihrer teuren Patienten fahren und eine Praxis mit hundertfünfzig verzweifelten Patienten zurücklassen? Glaubten sie wirklich, die Praxis bei ihrer Rückkehr so vorzufinden, wie sie sie verlassen hatten?
    Im Verlauf des Nachmittags wurde es in Halle sehr still. Kaum jemand hielt sich auf den Gassen auf. Jeder beschäftigte sich zu Hause. Es gab viel zu tun: zusammenpacken, noch einmal satt essen, beten. Manche Hausfrau begann manisch zu backen undrührte Teig an, mit dem man ein ganzes Stadtviertel gesättigt hätte. Geständnisse wurden innerhalb der Familien gemacht, Geheimnisse ausgeplaudert, alles, was seit langem gesagt werden sollte, aber nie gesagt worden war, musste nun heraus, denn es war die letzte Gelegenheit. Manches Geheimnis wäre besser ungesagt geblieben, manche Offenbarung wurde nicht positiv aufgenommen, manches Stück aus Glas oder Ton oder Porzellan ging zu Bruch, weil man sich abreagieren musste.
    Am späten Nachmittag eilten dann doch einige Gestalten durch die Gassen, Kutschen rollten, Boten flitzten. Runden von Ärzten fürchteten um die Einrichtung ihrer Praxen. Wie sicher konnte man sein, dass die Hallesche Bevölkerung so lammfromm bleiben würde, wie sie sich seit langem gegeben hatte? Und stets die Angst vor dem ersten Toten! Sie hatten Angst vor dem Dammbruch, denn so sehr Sterben und Tod zum Leben der Menschen gehörten, nicht jeder Tote musste gleichmütig hingenommen werden. Sie malten sich Szenarien des Schreckens aus: die direkten Nachbarn eines

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