Doctor Boff - Weiberkranckheiten
offenkundig verfügte er über Adressen, die zehnmal besser informiert waren als durchschnittliche Bürger.
»Ist schon gut«, sagte Boff im Gasthaus. »Ich will gar nicht alles wissen. Es kann sogar noch nützlich werden, nicht alles zu wissen.«
Vierzehn Personen saßen mit ihm an der Tafel. Alle anderen Tische waren gefüllt. Hunger und Durst hatten die Menschen hergeführt, aber noch stärker war an diesem Abend ein anderes menschliches Grundbedürfnis: die Neugier. In Sichtweite mit einem der Hauptkontrahenten des Halleschen Ärztekrieges zu speisen, bedeutete für die Gäste ein großes Vergnügen. Man verstand kein Wort von dem, was an der Tafel beredet wurde. Das war auch nicht nötig, denn dort wurden erkennbar keine Schandtaten vorbereitet, dort wurde gezecht und gefeiert.Die lachenden Mienen sprachen eine deutliche Sprache. Man befand sich mit der aktuellen Stadtgeschichte auf du und du, man konnte dem Stadtphysicus eine Hand auf die Schulter legen oder ihm die Hand schütteln. Das war ein schönes Gefühl. Der Stadtphysicus verstand zu leben, das gefiel den Leuten. Fast noch mehr als die Tatsache, dass Boff ein Gesicht hatte und es zeigte. Er war ein Mann des Volkes, obwohl er ein akademischer Arzt war und in hohen Kreisen verkehrte.
Seine Gegner hatten kein Gesicht. Wen kannte man von ihnen schon? Den Bürgermeister natürlich, aber der stand nicht eindeutig gegen Boff. Der schwebte über den Wassern und hielt sich aus allem heraus. Vielleicht lag das an seinen Zahnschmerzen, vielleicht daran, dass er gern lavierte, weil er es sich mit niemand verderben wollte. Er schlug sich ungern auf eine Seite, solange die Möglichkeit bestand, dass die andere Seite am Ende den Sieg davontragen konnte.
Wer hatte noch ein Gesicht? Galgen-Dosse natürlich, aber bei ihm sah man nicht sein Gesicht, sondern seine Prothese. Dosse verkehrte mit seinesgleichen und saß im Gasthaus am kleinsten Tisch, damit er von unerwünschten Mitessern verschont blieb. Zwei Ratsherren hatten Gesichter. Der eine, weil er schon seit vier Jahrzehnten politisch aktiv war; der andere, weil er ein Trunkenbold war, im Suff die tollsten Sachbeschädigungen beging und sich immer noch im Amt hielt. Das war das Rathaus: kaum Gesichter, aber eine Maschine der Macht. So wie das Zuchthaus eine Maschine der Strafen war. Die Menschen, die die Maschinen am Laufen hielten, traten hinter die Kraft und den Einfluss der Maschinen zurück. So wie die Offiziere des Regiments hinter den Uniformen verschwanden. Da war es offensichtlich und sogar angestrebt: Wichtig war die Funktion, nicht der einzelne Mensch.
Und jetzt gab es diesen Boff. Niemand hatte das Gefühl, er würde sich in den Vordergrund drängen. Er saß ja lediglichin einem Gasthaus, von hier bis zu seinem Bett waren es nicht mehr als hundert Schritte.
Nicht die Eitelkeit hatte den Arzt so schnell beliebt gemacht, es war die Mundpropaganda seiner Patientinnen. Denn niemand ging vom Arztbesuch nach Hause und hielt den Mund geschlossen. Dass man über den Arzt erzählte, über die Krankheit, die Behandlung und was man in der Praxis erlebt hatte, war ein Nebeneffekt der Krankheit und nicht der unwichtigste. Streng genommen handelte es sich um einen Schritt zur Heilung. Wäre man mit dem Medicus unzufrieden gewesen, hätte Boff längst Gegenwind gespürt. Aber man schätzte ihn. Sein gutes Aussehen war nicht unwichtig, die Narbe war ungemein wichtig, denn sie verlieh ihm gleichzeitig Männlichkeit und Geheimnis. So eine Narbe holte man sich nicht beim Kohlschneiden. Dieser Mann hatte gekämpft, mit dem Degen oder dem Messer. Er hatte Feinde, er hatte die Entscheidung gesucht und war nicht als Verlierer aus dem Kampf hervorgegangen.
Das liebten die Menschen: kein dröger Buchhalter mit Ärmelschonern, sondern ein Arzt, den sie sich auch als Soldat und Straßenräuber vorstellen konnten. Dass der Mann an Fürstenhöfen verkehrte und Könige kannte, erhöhte den Respekt nur noch. Fürsten und Könige hatten Gesichter, mit ihnen verbanden die Menschen mehr als Paragraphen und Anordnungen. Sie wollten die Fürsorge des Rathauses gar nicht missen, aber ein wenig mehr Rabatz hätte es schon sein dürfen. Die Lebensgeschichten aus dem Rathaus gaben einfach nichts her, die Ehefrauen waren anständig, die Kinder artig, und wenn sie den Hintern versohlt kriegten, was noch keinem Kind geschadet hatte, hielten sie still und wurden zu gehorsamen Kindern. Das interessierte niemanden, das hatte man in der eigenen
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