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Dog Boy

Dog Boy

Titel: Dog Boy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Hornung
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wusste, dass er Schmerzen hatte. Er schien sie nicht zu erkennen, sondern richtete den Blick auf Dimitri. Während sie beobachtete, wie sich der knochige Brustkasten unter ihrem Stethoskop abmühte, spürte sie, wie Dimitri über das Krankenbett hinwegstarrte. Es gab nicht viel zu sagen, also schwieg sie und machte sich, ohne aufzublicken, ihre Notizen. Es war nicht ihre Schuld, dass der Junge krank war, deshalb konnte ihr Dimitris vorwurfsvoller Blick nichts anhaben. Natürlich stand für ihn mehrauf dem Spiel. Er hatte immer noch vorgehabt, die beiden Jungen zusammen zu studieren, und hielt hartnäckig an der Vorstellung fest, dass sie zumindest teilweise wild gelebt hatten. Dennoch konnte sie auf seinen tadelnden Blick ganz gut verzichten.
    Sie gab der Krankenschwester die Anweisung, die Dosis des intravenös verabreichten Gentomycins und Morphiums zu erhöhen, und verließ das Zimmer. Dimitri würde sie verständigen, wenn sich irgendetwas veränderte. Ihr war bewusst, dass sie den Rückzug antrat. Sie hatte Marko gerngehabt, doch sie konnte das Ganze nicht ändern. Ihre Zuneigung hatte jetzt keinen Ort mehr, und sie musste sie zurückziehen. Schließlich musste sie die Autopsie an einem Kind vornehmen, das sie gekannt hatte, nicht Dimitri.
    Welpes Körper sah aus wie ein winziger Berg in einer riesigen Schneefläche auf dem Krankenbett. Er wehrte sich nicht. Dimitri saß stundenlang bei ihm, und Welpe, der auf einer Morphium- und Fieberwolke schwebte, lächelte jedes Mal, wenn er Dimitri in die Augen schaute. Sein Blick war weder hündisch noch jungenhaft. Von dem Jungen, den Dimitri gekannt hatte, schien nichts mehr übrig geblieben zu sein. Dimitri saß da, wartete auf den Blick und fragte sich, was Marko wohl sah, dass er so nett lächelte. Er hatte das unbehagliche Gefühl, dass der Junge nicht ihn, sondern jemand anderen anschaute.
    Am nächsten Abend starb Welpe ohne großen Todeskampf.

V
    Es ist die Stunde zwischen Hund und Wolf. In der langen, herbstlichen Abenddämmerung vermengen sich Licht und Dunkelheit, Angst und Möglichkeit. Zwischen Hund und Wolf scheint alles zu zögern, keins von beidem hat die Oberhand, bis zu dem Augenblick, in dem sich die Nacht wie ein langer Atemzug über die Stadt breitet.
     
    Romotschka trottete am Berghang entlang und schlug mit seiner Keule nach Dosen und anderem Müll. Von Norden her wehte ein bitterkalter Wind und wirbelte an den Hängen kleine Schwärme von Plastiktüten auf, die sich über die Stadt erhoben. Jegliche Wärme war aus der Welt verschwunden, und der Wind roch nach Herbst. Süß duftende trockene Grasspitzen, Tee und der Rauch von Feuern. Draußen im Wald stachen golden und orange die Birken hervor; die Lärchen bildeten einen Schleier aus mattem Gold, und die Kiefern und Fichten wirkten in ihren dunklen Mänteln noch größer als am Tage. Die Vogelbeeren hingen schwer und rot an den Bäumen, noch zu sauer, um sie fressen zu können. Romotschkas dicke Haarmähne wehte ihm ins Gesicht, während er sich in zielloser Trauer mal hierhin, mal dorthin wandte. Welpe war tot. Er wusste, was das bedeutete. Blutleerer Körper. Aasgeruch. Kalte Knochen. Kalte Fäulnis. Er würde Welpe nie wiedersehen. Alle Geschöpfe, die er hatte sterben sehen, hatten Angst gehabt, und er konnte es kaum ertragen, sich Welpe so vorzustellen.
    Er starrte zu dem blutunterlaufenen Auge des Himmelshinauf. Was, wenn irgendjemand irgendwo all das beobachtete? Jemand wie Natalja, jemand, der nichts wusste und außerhalb von allem lebte, außerstande zu riechen, zu berühren, sich zu reiben; der bloß begeistert beobachtete, ohne zu begreifen? Damals war es gut gewesen, neben Natalja zu stehen und zu beobachten, wie Welpe im Zimmer spielte. Er hatte immer gewusst, dass sie zuschauten, und die Genugtuung, entdeckt zu haben, wie das Ganze vor sich ging, mischte sich mit dem Glücksgefühl darüber, dass Natalja ihre Geheimnisse enthüllt hatte. Sie hatte ihm die Bildschirme gezeigt, und er hatte auch all die anderen Kinder beobachtet, die ihm vorher völlig gleichgültig gewesen waren. Nun hatte er sie plötzlich interessant gefunden. Auch das war eine Form von Jagd. Alles, was die Kinder taten, wirkte verändert, sehens- und nachdenkenswert. Er hatte vorgehabt, ihr sein eigenes Geheimnis anzuvertrauen, doch dann hatte Dimitri sie entdeckt und einen Wutanfall bekommen.
    Aus dem ausgeblichenen Eimer vor seinen Füßen schoss eine Ratte, und er schlug wild mit der Keule nach ihr. Als er sie

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