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Dog Boy

Dog Boy

Titel: Dog Boy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Hornung
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kennt. Er trägt die grobe Keule, als wäre sie leicht wie eine Feder. Abgesehen von dem kehligen Knurren, das er manchmal durch die Nase und zwischen den Zähnen hervorstößt, ist er nahezu stumm.
    Seine Herkunft kann man nur erraten, doch hat er dunkle Augen und leicht tatarische Züge, seine Haut unter dem verkrusteten Schmutz ist blass. Er hat schöne Gesichtszüge, breite Wangenknochen über dem großen Mund und den eindrucksvollen Zähnen, doch es ist schwer zu sagen, ob er nett aussehen könnte. Wer ihm zufällig begegnet, wird von seinen schwarzen, leicht asiatischen Augen mit natürlicher Feindseligkeit und gierigem, abschätzigem Blick betrachtet. Bei einem Sechsjährigen ist so etwas ein wenig beunruhigend. Außerdem stinkt der Junge schlimmer als jeder bomsch . Aber nicht deshalb gehen ihm die Menschen aus dem Weg. Auf dem Berg gibt es viele seltsame Typen, und als Kind wäre er eigentlich eine leichte Beute für Plünderer.
    Die Menschen gehen ihm aus dem Weg, weil er nie allein ist.
    Man sagt, er habe mehr als zwanzig Hunde, die aus dem Nichts auftauchen könnten. Sie seien größer und kräftiger als normale Hunde. Seine langen, scharfen Fingernägel besäßen die Kraft von Wolfskrallen. Manche sagen, er sei ein Dämon, der Menschenfleisch fresse und in der Gestalt eines Kindes allein umherziehe, um Menschen in seine Nähe zu locken. Andere behaupten, er sei ein genetischer Mutant, ausgebrochen aus einem streng geheimen Labor. Selbst die Skeptiker halten ihn für gefährlich. Bei seinem Anblick geht ein Raunen um, und eine Woge der Unruhe brandet über den Berg und durch den Wald. Die Leute sperren die Türen ihrer Hütten zu und beobachten ihn durch die Ritzen.
    Den Haushunden sträubt sich das Fell, sie knurren ängstlich und prüfen die Luft, wenn er vorbeigeht. Die Tatsache, dass sogar Hunde sich vor ihm fürchten, verstärkt noch das Unbehagen, das die Menschen in seiner Nähe spüren.
     
    In den freundlicheren Jahreszeiten leben die Hunde und Menschen, die in den baufälligen Hütten am bewaldeten Rand des Müllberges wohnen, miteinander in Frieden. Sie teilen sich ein Gebiet und somit auch die Nahrungsmittel und die Entbehrungen. Und sie teilen sich die Gefahr.
    Die milizi , die den Auftrag haben, die doppelte Bedrohung durch Krankheit und Verbrechen zu bekämpfen, und zugleich versuchen, ihren kärglichen Lohn ein wenig aufzubessern, gehen am Berg und am Waldrand auf Streife. Sie zerstören die Hütten, treiben die Menschen zusammen und erschießen die Haushunde vor den Augen ihrer Besitzer. Im letzten Herbst fand zudem eine ernstgemeinte Säuberungsaktion statt: der bislang beispiellose Versuch, Obdachlose aus der Innenstadt zu vertreiben und die steigende Anzahl streunender und wild lebender Hunde zu minimieren. Moskau solle eine Vorzeigestadt werden, verkündeten die staatlichen Fernsehsender. Die Straßen wurden gefegt, Räumschiffe säuberten die Kanäle, halbherzig wurde verfügt, dass Hunde zukünftig anzumelden seien, eine Volkszählung wurde durchgeführt, jede Aufenthaltsgenehmigung überprüft. Herumstreunende Hunde und Menschen wurden gewaltsam in die Randgebiete oder ganz aus der Stadt vertrieben.
    Im Winter ist alles anders. Die Zeit der milizia ist fast vorbei, zumindest draußen im Wald und am Berg. Die bomschi halten sich durch Arbeit oder Bettelei in der Stadt am Leben, wo die Angehörigen der milizia , die am Zahltag vor den Fabriktoren warten, sie ausrauben oder ihr eigenes Einkommen durch Schutzgelderpressung aufbessern. Die Feindschaft zwischen wild lebenden Hunden und bomschi ist jahreszeitlich bedingt, und der Winter bildet den Höhepunkt. Rudelhunde dringen in jede Hütte ein, in der es ungewöhnlich kalt zu sein scheint, und verjagen andere Rudel von dem frischen Fleisch, das sie dort finden. Wenn es den Menschen auffällt, vertreiben sie die Tiere mit Flammen, Geschrei und Stöcken, und dennoch finden Nachbarn manchmal, wenn die Dämmerung wie Milch in den Himmel rinnt, eine angefressene gefrorene Leiche.
    Hier draußen, in diesem Reich der Toten und Ausgestoßenen, sind die bei der Schneeschmelze im Frühling freigelegten Leichen nichts Ungewöhnliches. Die Menschen aus der Stadt nennen sie Schneeglöckchen. In diesem Jahr haben die städtischen Behörden und die milizia beim Tauwetter mehr als dreihundert Tote gefunden.
    Im Frühling kehrt das Leben zu einer unsicheren Normalität zurück. Fürs Erste kommen Menschen und Hunde in gegenseitigem Misstrauen und

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