Dogma
letzten Tür. Die Frau schloss sie auf und trat hindurch. Sie bedeutete Tess und Reilly, ihr zu folgen.
Sie standen in einem winzigen Raum, eher ein begehbarer Schrank. Er war niedrig und fensterlos, und wie in den Kammern der unterirdischen Stadt war es auch hier trotz der Hitze, die über der Erde herrschte, angenehm kühl und trocken.
Tess schaute sich um. Was sie sah, verschlug ihr den Atem.
Die drei Wände der engen Kammer waren mit Regalen bedeckt, in denen dicht an dicht Bücher standen. Alte Bücher. Kleine, ledergebundene, offenbar antike Kodizes. Die ältesten Bücher auf dem Planeten: zweitausend Jahre alte Evangelien aus den Anfangstagen der Kirche.
Dutzende.
Tess konnte es nicht fassen.
«Darf ich?», brachte sie heraus und zeigte auf eines der Bücher.
Die alte Frau zuckte nur resigniert die Schultern, wie um zu sagen:
Bedienen Sie sich
.
Tess zog ein Buch aus dem Regal. Es glich den zwei Kodizes, die sie in Conrads Grab gefunden hatte. Die gleiche Art von Ledereinband mit der Lasche, die über die Vorderseite geschlagen war, umwickelt mit dem gleichen Riemen. Der Kodex schien auch ebenso gut erhalten wie die beiden anderen. Tess zögerte, dann öffnete sie die Lasche und schlug das Buch auf. Auch die Schrift war ähnlich, Koine-Griechisch.
Sie übersetzte laut die Titelseite: «Das Evangelium Evas».
Diesen Titel kannte Tess nicht. Die alte Frau beobachtete sie forschend. «Das hat mich auch neugierig gemacht. Aber es ist nicht die Eva, an die Sie jetzt sicher denken.»
Tess sah sie erstaunt an. «Sie wissen, was in diesen Büchern steht? Sie haben sie gelesen?»
«Nicht ganz. Ich habe mir selbst ein wenig Koptisch und Altgriechisch beigebracht und konnte so ein klein wenig davon verstehen.»
Eine Frage brannte Tess auf den Nägeln, sie konnte sich nicht länger bremsen. «Wenn ich Sie nach einem bestimmten Text frage, würden Sie wissen, ob er hier ist oder nicht?»
Die alte Frau zuckte die Schultern. «Wahrscheinlich.»
Tess atmete tief durch. «Vor ein paar Jahren hielt ich etwas in den Händen, das ich für das Tagebuch Jesu hielt. Von ihm selbst geschrieben.»
Die alte Frau machte große Augen. «Sie haben es gesehen?»
«Ja, aber ich weiß nicht, ob es echt war oder eine Fälschung. Ich hatte keine Gelegenheit, es im Labor zu untersuchen, um das herauszufinden. Wissen Sie etwas davon? Wissen Sie, ob es echt war?»
Die Frau lächelte, dann schüttelte sie den Kopf. «Nein. Es war eine Fälschung.»
Tess war verblüfft, mit welcher Entschiedenheit sie das sagte. «Woher wissen Sie das?»
«Aus Maysoons Brief. Conrad hatte ihr davon erzählt.» Sie schwieg kurz, um ihre Gedanken zu ordnen. «Sie konnten es nur anfertigen, weil sie all das hier zur Verfügung hatten.» Sie wies auf die vollen Regale.
«Augenblick mal, wollen Sie damit sagen, dass die Templer die ganze Zeit von diesem Schatz wussten?»
«Davon wussten? Ohne ihn hätte es sie nie gegeben. Damit fing doch alles an. Mit den ersten Hütern dieser Schriften, den Männern, die sie sicher in der Kaiserlichen Bibliothek in Konstantinopel versteckt hielten. Es war alles ihr Plan.»
«Sie meinen, die Idee zu dem Templerorden stammte aus Konstantinopel?»
Die alte Frau nickte. «Die Hüter hatten den Schatz von Nicäa seit Jahrhunderten verwaltet – seit Hosius die Schriften vor der Verbrennung gerettet und heimlich nach Konstantinopel in Sicherheit gebracht hat. Die Hüter haben darüber gewacht und auf den rechten Zeitpunkt gewartet, sie der Welt zugänglich zu machen. Aber dieser Zeitpunkt schien nie zu kommen. Als das erste Jahrtausend zu Ende ging, nahm die Geschichte eine düstere Wendung. Der Papst war übermächtig. Und als er einen heiligen Kreuzzug ausrief und den Christen befahl, im Namen Jesu in den Krieg zu ziehen und zu töten, war den Hütern klar, dass er von Sinnen war. Von der Botschaft Jesu war nichts mehr geblieben. Aber die Kreuzritter gewannen Schlachten und verschafften dem Papst immer größere Macht. Sämtliche Monarchen Europas küssten ihm bereits die Füße, und wenn er erst noch das Heilige Land in seine Gewalt gebracht hätte, dann hätte er die Oberherrschaft über den größten Teil der bekannten Welt gehabt. Die Hüter waren entsetzt über diese Entwicklung, sie fühlten sich verpflichtet, etwas zu unternehmen. Sie mussten eine Möglichkeit finden, ihm Einhalt zu gebieten. Und da fassten sie einen radikalen Entschluss. Sie beschlossen, eine Gegenmacht zu schaffen. Eine militärische
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