Dogma
geben. Durch die grausamen Tücken des Schicksals war sein Vorhaben von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. «Diese Hüter», fragte sie, «was ist aus ihnen geworden? Hat Maysoon nach ihnen gesucht?»
«Gewiss», antwortete die alte Frau. «Aber sie hat keine Spur von ihnen gefunden. Wahrscheinlich wurden sie bei der Plünderung der Stadt getötet, vielleicht sogar von Männern des Papstes, die nach den Schriften suchten.»
«Und so wurden Maysoon und ihre Nachfahren – Ihre Familie – die neuen Hüter», stellte Tess fest.
Die alte Frau nickte. «Kommen Sie», sagte sie. «Gehen wir wieder nach oben. Ich koche noch einen Kaffee.»
Sie gingen zurück durch den Tunnel und stiegen die Stufen hinauf. Tess und Reilly standen in der Küche, während die alte Frau den Blechtopf neu füllte, eine Gasflamme auf dem Herd anzündete und den Topf daraufstellte. Eine drückende Stille lastete über dem Raum. Nach einer Weile brach Tess das Schweigen.
«Und was tun wir jetzt?»
Die alte Frau dachte eine Weile nach, dann sah sie Tess an. «Ich weiß es nicht.» Nach einer Pause fragte sie: «Diese Mörder, die sind immer noch hinter den Schriften her?»
Tess nickte.
«Dann müssen wir sie in Sicherheit bringen, nicht wahr?», sagte die Frau. «Hier können sie nicht bleiben.» Sie seufzte tief. «Können Sie sie an einen sicheren Ort schaffen?»
Tess hatte insgeheim bereits überlegt, wie sie genau diesen Vorschlag behutsam anbringen könnte. Dass die alte Frau von sich aus den Wunsch äußerte, kam für sie völlig überraschend.
«Selbstverständlich.»
Die alte Frau ließ ein wenig die Schultern hängen, als ob die Last ihrer Entscheidung sie niederdrückte. «Ich habe wohl kaum eine Wahl, wie? Und vielleicht ist es nicht einmal das Schlechteste. Sie müssen verstehen, dies hier …», sie machte eine Geste, die den Boden unter ihren Füße und das Geheimnis darin umfasste, «… das ist viel größer als wir. Ist es immer gewesen. Es ist eine Bürde, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde …» Sie schüttelte wehmütig den Kopf. «Ich habe nicht darum gebeten. Ich hatte keine andere Wahl, ebenso wie meine Vorfahren. Ich habe getan, was von mir erwartet wurde, wie viele andere vor mir. Und wenn es einmal dazu kommt, wird mein Sohn zweifellos dasselbe tun. Aber wofür? Was können wir von hier aus schon damit anfangen? Wir sind einfache Leute, Miss Chaykin. Wir führen ein einfaches Leben. Und diese Schriften … sie verdienen Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit, die Sie ihnen vielleicht verschaffen können. Sie täten mir und meinen Nachkommen einen Gefallen. Sie würden uns von einer gewaltigen Last befreien – erst recht jetzt, nachdem Sie mir erzählt haben, dass es Menschen gibt, die dafür töten.» Sie fasste Tess an den Armen. «Die Schriften müssen in Sicherheit gebracht werden. Sie müssen sie von hier fortschaffen und damit tun, was Sie für das Beste halten. Werden Sie das?»
«Es wird mir eine Ehre sein.»
«Und machen Sie sich keine Sorgen», fügte Reilly hinzu. «Ich werde dafür sorgen, dass Sie unter Schutz gestellt werden, bis diese Sache ausgestanden ist.»
Die alte Frau schien ein wenig erleichtert, dann nahm ihr Gesicht einen fragenden Ausdruck an. «Was werden Sie mit den Schriften anfangen?»
«Zunächst einmal müssen sie abfotografiert und ordentlich katalogisiert werden», erwiderte Tess. «Und dann übersetzt. Anschließend müssen wir entscheiden, wem sie zugänglich gemacht werden sollen und wie das geschehen kann, ohne allzu großes Aufsehen zu erregen.»
Die alte Frau schien nicht überzeugt. «Die Schriftrollen vom Toten Meer werden immer noch angezweifelt. Auch die Evangelien von Nag Hammadi sind kaum bekannt. Warum glauben Sie, dass es bei diesen anders sein wird?»
«Wir müssen es versuchen. Diese Schriften … sie sind Teil unserer Entwicklung als Zivilisation. Sie werden uns zu mehr Reife und Erkenntnis verhelfen. Aber das muss behutsam geschehen und darf nicht überstürzt werden. Der Zeitpunkt muss richtig gewählt werden. Und nicht alle werden sich überzeugen lassen oder sich auch nur dafür interessieren. Diejenigen, die glauben wollen, die wirklich auf ihren Glauben angewiesen sind, für die wird all das nicht von Bedeutung sein. Es wird für sie nichts ändern. Sie werden an ihrem Glauben festhalten, komme, was wolle. Das ist es, was ‹Glaube› für sie bedeutet. Etwas, woran man unerschütterlich festhält, ganz gleich, wie viele
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