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Dohlenflug

Dohlenflug

Titel: Dohlenflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Gracher
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Folgendes zugetragen
     …«

 
    30
    DER NACHTHIMMEL über dem
     Talschluss von Gastein war am sechzehnten Mai neunzehnhundertfünfundvierzig
     nur spärlich bewölkt. Ein fast voller Mond unterstützte die
     dürftige Beleuchtung des Böcksteiner Bahnhofs, sodass die beiden
     Männer am Perron durchaus mehr als die obligate Hand vor Augen sehen
     konnten.
    Seit einer Woche war der
     Zweite Weltkrieg nun Geschichte, resümierte Hans Häuslschmied.
     Admiral Dönitz, so war in den letzten Tagen pausenlos im US-Funk
     Radio Salzburg zu hören gewesen, hatte die Kapitulationsurkunde von
     seiner Ordonnanz in Berlin unterzeichnen lassen. Die Vernünftigen in
     der Bevölkerung hatten jedoch schon lange vorher in der Fortführung
     des Krieges keinen Sinn mehr gesehen, und Häuslschmied zählte
     sich durchaus zu den Vernünftigen. Aber jetzt im Frühjahr die
     Paradoxie des Krieges einzusehen, das war keine große Kunst, sondern
     nur mehr die Ultima Ratio.       
    Dennoch gab es immer noch
     eine kleine Schar von bornierten Fanatikern, für die rationales
     Denken gleich in mehrfacher Hinsicht ein Fremdwort war. Nicht zu Unrecht
     wurde ihnen vorgeworfen, mit allen möglichen Organen zu denken, nur
     nicht mit dem Gehirn. Zu ihnen zählten vor allem eingeborene SS-Angehörige,
     die vorgehabt hatten, die Eisenbahnbrücke über dem Angertal,
     einem Gasteiner Seitental, zu sprengen, um dadurch die Besetzung Gasteins
     durch die Amerikaner hinauszuzögern. Zwei Tage vor der Kapitulation!
     Ein hirnrissiges Unternehmen, das nur die Diskreditierung der Bevölkerung
     zur Folge gehabt hätte.
    Zum Glück für die
     Einheimischen hatten die Widerstandskämpfer einen Tipp erhalten und
     in sprichwörtlich letzter Minute die Sprengung verhindert. Die
     Saboteure wurden mit vorgehaltener Waffe zum Rückzug veranlasst und
     vier Tage später verhaftet.
    »Gott sei Dank«,
     dachte Hans Häuslschmied laut. Sein Kamerad Siegfried Röck und
     er saßen auf einer Bank am Perron. Der kleine Verladebahnhof war die
     letzte Station vor dem Tauernhauptkamm und dem elf Kilometer langen
     Tauerntunnel, dessen nördliches Portal nur einige hundert Meter von
     ihnen entfernt war.
    Siegfried Röck blickte
     auf das Leuchtzifferblatt seiner Junghans-Armbanduhr. Dreiundzwanzig Uhr
     zehn. Der Lastenzug musste jeden Augenblick kommen.
    Obwohl Häuslschmied das
     schwarze Loch der Tunnelröhre aufgrund der fortgeschrittenen
     Tageszeit kaum erkennen konnte und er den Zug letztlich aus der anderen
     Richtung erwartete, ging sein Blick immer wieder zum Portal. Doch sogar,
     wenn er nicht hinsah, war die Assoziation mit einer Pistolenmündung
     ständig präsent.
    »Warum Gott sei Dank?«,
     fragte Siegfried Röck.
    »Gott sei Dank hat man
     die Brücken-Saboteure noch rechtzeitig erwischt«, sagte Häuslschmied.
     »Sonst hätten wir uns die Nummer hier glatt schenken können.«
    Die beiden Männer waren
     kaum älter als Mitte zwanzig, sahen aber aus wie vierzig. Sie wirkten
     unterernährt und trugen Wehrmachtsuniformen, an denen allerdings die
     Rangabzeichen fehlten.
    Röck und Häuslschmied
     schienen die einzigen Personen am Bahnhof zu sein. Abgesehen vom
     Haltesignal vorn am Stellwerk und vom Büro des Fahrdienstleiters
     brannte nirgendwo Licht.
    Die schroffen
     Glimmerschiefer-Felswände beiderseits des Talschlusses wirkten sehr
     beklemmend – beklemmender noch als das schwarze Loch.
    »Wer hat die Saboteure
     eigentlich verpfiffen?«, wollte Häuslschmied wissen.
    »Ich natürlich«,
     sagte Röck völlig emotionslos. »Oder glaubst du etwa, ich
     lass mir so ein Ding von ein paar verrückten SSlern vermasseln?«
    »Aber wir waren doch
     selbst welche von denen«, entfuhr es Häuslschmied.
    Röck streckte die Beine
     von sich. Die Absätze seiner Wehrmachtsstiefel schrammten dabei
     über den Asphalt.
    »Ich habe immer schon
     gesagt: Es gibt solche SSler und solche. Und wir haben zur zweiten, zur
     pragmatischen Kategorie gehört.«
    »Keine falsche
     Bewegung!«
    Der amerikanische Akzent der
     Stimme hinter ihnen war unverkennbar. Häuslschmied zuckte zusammen,
     nahm aber aus den Augenwinkeln heraus wahr, dass Röck sich wenig
     überrascht zeigte.
    »Nicht umdrehen!«
    Die beiden hinter ihnen
     stehenden Männer durchsuchten sie nach Waffen.
    »Okay, no weapons,
     Captain«, sagte einer von ihnen.
    »All right. Wo steht
     der Lastwagen?«, fragte der mit »Captain« Angesprochene.
    »Da hinten, Richtung
     Anlauftal – wie

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