Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke.
Gefühle,
als ob!
Stiller Besuch
Jüngst war seine Mutter zu Besuch.
Doch sie konnte nur zwei Tage bleiben.
Und sie müsse Ansichtskarten schreiben.
Und er las in einem dicken Buch.
Freilich war er nicht sehr aufmerksam.
Er betrachtete die Autobusse
und die goldnen Pavillons am Flusse
und den Dampfer, der vorüberschwamm.
Seine Mutter hielt den Kopf gesenkt.
Und sie schrieb gerade an den Vater:
»Heute abend gehn wir ins Theater.
Erich kriegte zwei Billetts geschenkt.«
Und er tat, als ob er fleißig las.
Doch er sah die Nähe und die Ferne,
sah den Himmel und zehntausend Sterne
und die alte Frau, die drunter saß.
Einsam saß sie neben ihrem Sohn.
Leise lächelnd. Ohne es zu wissen.
Stadt und Sterne wirkten wie Kulissen.
Und der Wirtshausstuhl war wie ein Thron.
Ihn ergriff das Bild. Er blickte fort.
Wenn sie mir schreibt, mußte er noch denken, wird sie ihren Kopf genau so senken.
Und dann las er. Und verstand kein Wort.
Seine Mutter saß am Tisch und schrieb.
Ernsthaft rückte sie an ihrer Brille.
Und die Feder kratzte in der Stille.
Und er dachte: Gott, hab ich sie lieb!
Rezitation bei Regenwetter
Der Regen regnet sich nicht satt.
Es regnet hoffnungslosen Zwirn.
Wer jetzt ‘ne dünne Schädeldecke hat,
dem regnet’s ins Gehirn.
Im Rachen juckt’s. Im Rücken zerrt’s.
Es blöken die Bakterienherden.
Der Regen reicht allmählich bis ans Herz.
Was soll bloß daraus werden?
Der Regen bohrt sich durch die Haut.
Und dieser Trübsinn, der uns beugt,
wird, wie so Manches, subkutan erzeugt.
Wir sind porös gebaut.
Seit Wochen rollen Wolkenfässer
von Horizont zu Horizont.
Der Neubau drüben mit der braunen Front wird von dem Regen täglich blässer.
Nun ist er blond.
Die Sonne wurde eingemottet.
Es ist, als lebte sie nicht mehr.
Ach, die Alleen, durch die man traurig trottet, sind kalt und leer.
Man kriecht ins Bett. Das ist gescheiter, als daß man klein im Regen steht.
Das geht auf keinen Fall so weiter,
wenn das so weiter geht.
Kleine Sonntagspredigt
Jeden Sonntag hat man Kummer
und beträchtlichen Verdruß,
weil man an die Montagsnummer
seiner Zeitung denken muß.
Denn am Sonntag sind bestimmt
zwanzig Morde losgewesen!
Wer sich Zeit zum Lesen nimmt,
muß des montags alles lesen.
Eifersucht und Niedertracht
schweigen fast die ganze Woche.
Aber Sonntag früh bis nacht
machen sie direkt Epoche.
Sonst hat niemand Zeit dazu,
sich mit sowas zu befassen.
Aber sonntags hat man Ruh,
und man kann sich gehen lassen. -
Endlich hat man einmal Zeit,
geht spazieren, steht herum,
sucht mit seiner Gattin Streit
und bringt sie und alle um.
Gibt es wirklich nichts Gescheitres,
als sich, gleich gemeinen Mördern,
mit den Seinen ohne weitres
in das Garnichts zu befördern?
Ach, die meisten Menschen sind
nicht geeignet, nichts zu machen!
Langeweile macht sie blind.
Dann passieren solche Sachen.
Lebten sie im Paradiese,
ohne Pflicht und Ziel und Not,
wär die erste Folge diese:
Alle schlügen alle tot.
Die Fabel von Schnabels Gabel
Kannten Sie Christian Leberecht Schnabel?
Ich hab ihn gekannt.
Vor seiner Zeit gab es die vierzinkige, die dreizinkige
und auch schon die zweizinkige Gabel.
Doch jener Christian Leberecht Schnabel, das war der Mann,
der in schlaflosen Nächten die einzinkige Gabel entdeckte, bzw. erfand.
Das Einfachste ist immer das Schwerste.
Die einzinkige Gabel
lag seit Jahrhunderten auf der Hand.
Aber Christian Leberecht Schnabel
war eben der Erste,
der die einzinkige Gabel erfand!
Die Menschen sind wie die Kinder.
Christian Leberecht Schnabel
teilte mit seiner Gabel
das Schicksal aller Entdecker, bzw. Erfinder.
Einzinkige Gabeln,
wurde Schnabeln
erklärt,
seien nichts wert.
Sie entbehrten als Teil des Bestecks
jeden praktischen Zwecks,
und man könne, sagte man Schnabeln,
mit seiner Gabel nicht gabeln.
Die Menschen glaubten tatsächlich, daß Schnabel etwas Konkretes bezweckte,
als er die einzinkige Gabel
erfand, bzw. entdeckte!
Ha!
Ihm ging es um nichts Reelles.
(Und deshalb ging es ihm schlecht.)
Ihm ging es um Prinzipielles!
Und insofern hatte Schnabel
mit der von ihm erfundenen Gabel
natürlich recht.
Modernes Märchen
Sie waren so sehr ineinander verliebt, wie es das nur noch in Büchern gibt.
Sie hatte kein Geld. Und er hatte keins.
Da machten sie Hochzeit und lachten sich eins.
Er war ohne Amt. So blieben sie arm.
Und speisten zweimal in der Woche warm.
Er nannte sie trotzdem: »Mein
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