Doktor Faustus
sie. »Außerdem bin ich zu groß für Sie.«
Und sie ging mit ihm, das geringe Kinn, dem es an der Vertiefung unter der runden Lippe fehlte, stolz erhoben. Oder es war Ines, die er gebeten hatte, und die ihm verhängten Blicks und mit gespitztem Munde zum Tanze folgte. Übrigens war er nett nicht nur gegen die Schwestern. Er kontrollierte seine Vergeßlichkeit. Plötzlich, besonders wenn jene es abgelehnt hatten zu tanzen, konnte er nachdenklich werden und sich an den Tisch setzen, zu Adrian und Baptist Spengler, der immer im Domino war und Rotwein trank. Blinzelnd, ein Grübchen in der Wange über dem starken Schnurrbart, zitierte er eben das Goncourt'sche Tagebuch oder die Briefe des Abbé Galiani, und mit jenem Ausdruck, entrüstet geradezu vor Aufmerksamkeit, blickte Schwerdtfeger bohrend in das Gesicht des Plaudernden. Er unterhielt sich mit Adrian über das Programm des nächsten Zapfenstößer-Konzerts, verlangte, als ob es keine dringlicheren Interessen und Verpflichtungen an allen Enden gäbe, nach der Erweiterung und Erläuterung von etwas, was Adrian kürzlich bei Roddes über Musik, über den Zustand der Oper oder dergleichen gesagt hatte, und widmete sich ihm. Er nahm seinen Arm und schlenderte mit ihm am Rande des Festgedränges um {298} den Saal, indem er sich des karnevalistischen Du gegen ihn bediente, unbekümmert darum, daß jener nicht darauf einging. Jeanette Scheurl hat mir später berichtet, daß, als Adrian einst von solchem Wandel an den Tisch zurückkehrte, Ines Rodde zu ihm sagte:
»Sie sollten ihm den Gefallen nicht tun. Er möchte alles haben.«
»Vielleicht möchte auch Herr Leverkühn alles haben«, bemerkte Clarissa, das Kinn in die Hand gestützt.
Adrian zuckte die Achseln.
»Was er möchte«, erwiderte er, »ist, daß ich ein Violinkonzert für ihn schreibe, mit dem er sich in der Provinz hören lassen kann.«
»Tun Sie das nicht!« sagte wieder Clarissa. »Es würden Ihnen nichts als Artigkeiten einfallen, wenn Sie sich dabei auf ihn bezögen.«
»Sie denken zu hoch von meiner Biegsamkeit«, gab er zurück und hatte das meckernde Gelächter Baptist Spenglers auf seiner Seite.
Aber genug von Adrians Teilnahme am Münchener Lebensgenuß! Fahrten in die notorisch wundervolle, wenn auch vom Fremdenbetrieb etwas ridikülisierte Umgebung zu machen, hatte er in Gesellschaft Schildknapps und meist auf dessen Drängen schon im Winter begonnen und hart glänzende Schneetage mit ihm in Ettal, Oberammergau, Mittenwald verbracht. Als der Frühling kam, mehrten sich sogar diese Ausflüge, sie galten den berühmten Seen, den Theaterschlössern des volkstümlichen Wahnsinnigen, und öfters fuhr man zu Rade (denn Adrian liebte das Fahrrad als Mittel unabhängiger Wanderung) aufs Geratewohl ins grünende Land hinein und nächtigte, wie es sich traf, im Bedeutenden oder Unscheinbaren. Ich gedenke dessen, weil Adrian auf eben diese Weise schon damals die Bekanntschaft des Ortes machte, den er sich später {299} zum persönlichen Lebensrahmen erwählen sollte: Pfeifferings bei Waldshut und des Hofes der Schweigestills.
Das Städtchen Waldshut, ohne Reiz und Sehenswürdigkeit übrigens, liegt an der Bahnlinie Garmisch-Partenkirchen, eine Stunde von München, und die nächste Station, nur zehn Minuten weiter, ist Pfeiffering oder Pfeffering, wo aber Schnellzüge nicht halten. Sie lassen den Zwiebelturm der Kirche Pfeifferings beiseite liegen, der sich aus der hier noch anspruchslosen Landschaft erhebt. Der Besuch Adrians und Rüdigers an dem Fleck war eine reine Improvisation und ganz flüchtig für diesmal. Sie übernachteten nicht einmal bei Schweigestills, denn beide hatten am nächsten Morgen zu arbeiten und wollten vor Abend mit dem Zuge von Waldshut nach München zurückkehren. Sie hatten im Wirtshaus am Hauptplatz des Städtchens zu Mittag gegessen, und da ihnen der Fahrplan mehrere Stunden ließ, fuhren sie auf der baumbestandenen Landstraße weiter nach Pfeiffering, führten ihre Räder durchs Dorf, ließen sich von einem Kinde den Namen des nahen Weihers, des »Klammerweihers«, sagen, warfen einen Blick auf die baumgekrönte Anhöhe »Rohmbühel«, und baten unter dem Bellen des Kettenhundes, den eine barfüßige Magd mit seinem Namen »Kaschperl« berief, um ein Glas Limonade unter dem mit einem geistlichen Wappen geschmückten Tor des Gutshauses, – weniger von Durstes wegen, als weil ihnen das massive und charaktervolle Bauernbarock des Gebäudes gleich in die Augen gestochen
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