Doktor im Glück
zart», bekräftigte ihr Gatte. «Dort hinauf, Doktor, bitte.»
Von Neugierde erfüllt, stieg ich die Treppe hinan. Ich war mir bereits im klaren, daß es sich um die alte Geschichte handelte — der arme gute Lord Nutbeam war verrückt, und die Familie litt darunter, daß sie diesen Umstand geheimhielt, statt ihn in eine Anstalt einweisen zu lassen und ihm jeden Freitag Obstkörbchen zu schicken. Aber meine klinische Untersuchung sollte mir zu meiner Überraschung in vielen Dingen die Augen öffnen.
Erstens einmal war Lord Nutbeam, weit davon entfernt, verrückt zu sein, ein Mann von ausgezeichneter Intelligenz und hoher Bildung.
«Ich stürzte von der Bibliotheksleiter, Doktor», erklärte er mir, im Bett liegend. «Passenderweise im Augenblick, als ich die Hand nach meiner Erstausgabe von Religio Medici ausstreckte. Kennen Sie das Werk? Haben Sie vielleicht auch Dr. William Harveys De Motu Cordis im lateinischen Original gelesen? Ich möchte so gerne mit einem Mann der Medizin darüber diskutieren.»
Da ich nicht über all diese Bücher plaudern wollte, die ich einmal lesen werde, wenn ich nicht weiß, was ich mit meiner Zeit anfangen soll, steckte ich mir das Stethoskop in die Ohren. Und nun kam die zweite Überraschung. Den Gesprächen unten in der Halle hatte ich entnommen, daß Lord Nutbeam das Leben entglitt wie ein nasser Seeaal, den man zu packen versucht, doch ich entdeckte schnell, daß er, abgesehen von seinen Frakturen, so gesund und frisch war wie ich.
«Ich habe eine sehr zarte Konstitution, Doktor», versicherte auch er, obwohl er mit seinem kleinen weißen Schnurrbart wie ein fixer alter Junge aussah. «Ich rauche und trinke nicht und lebe von reizloser Kost. Seit ich in meinem einundzwanzigsten Lebensjahr Fieber hatte, nehmen sich mein lieber Bruder und seine Gattin aufopfernd meiner an.»
«Sorgen Sie sich nicht», sagte ich. «Bald werden wir diese Kleinigkeit in Ordnung gebracht haben, und dann können Sie genau dort weiterlesen, wo Sie unterbrochen wurden.»
Einige Minuten später trat ich wieder den ambulanten Mitgliedern der Familie Nutbeam in der Halle gegenüber und tat ihnen in entsprechenden Grabestönen kund, daß Seine Gnaden sich tatsächlich den Hals seines rechten Oberschenkelknochens gebrochen habe.
«Ha!» stieß Percy Nutbeam hervor. «O Tantchen!»
«Dann ist es also ein ernster Fall, Doktor?»
«Aber lassen Sie mich Ihnen versichern», ich griff mir an die Rockaufschläge, «sobald wir eine so vitale Person wie Lord Nutbeam ins Spital geschafft und in die Hände eines tüchtigen orthopädischen Chirurgen gelegt haben, wird er im Nu wieder auf den Beinen sein. Fürs erste habe ich ihm ein Beruhigungsmittel gegeben, die Fraktur ist nicht sehr schmerzhaft. Ich garantiere Ihnen, daß er alles wunderbar überstehen wird.»
Doch da richtete Amanda Nutbeam eine Frage an mich, die mich beinahe umwarf: «Glauben Sie nicht, Doktor», sagte sie, «daß es weit, weit menschenfreundlicher wäre, einfach nichts zu tun?»
«Ein ganz hervorragender Spezialist ließ unsere Tante friedlich dahinscheiden», fügte Percy hinzu.
«Aber verdammt nochmal!» rief ich. «Wie alt war Ihre Tante?»
« Zweiundneunzig. »
Lord Nutbeam war fünfzig, also in jenem Alter, da die meisten Männer ihren Sekretärinnen erzählen, sie stünden in der Blüte ihrer Manneskraft.
«Aber sehen Sie, das ist doch ein ganz anderer Fall —»
«Seine Gnaden ist so hinfällig, das Leben ist ihm nur eine Last», versicherte Amanda mit Nachdruck.
«Seit Jahren hinfällig, Doktor. Schon in den Kinderschuhen kränkelte er.»
«Der Tod wäre sicher eine Erlösung für ihn.»
«Unter den Engeln gibt es keine Leiden mehr», sagte Percy abschließend, den Blick zum Kronleuchter gewandt.
Nun mag ich ja nicht der gelehrteste aller praktischen Ärzte sein, aber langjährige Betätigung im Sport der Könige hatte meine Sinne so geschärft, daß ich bald roch, wo etwas faul war. Ich faßte daher das Paar ins Auge und sagte: «Wenn ich Lord Nutbeam nicht noch heute nacht ins Spital bringe, so wäre das — gelinde gesagt — ein grober ärztlicher Verstoß.»
«Sie können ihn schwerlich ohne seine Einwilligung hinschaffen», erwiderte Amanda scharf.
Sie schenkte mir ein Lächeln, das so angenehm war wie einer von Sir Lancelot Spratts Bauchschnitten.
«Und Lord Nutbeam würde nie zu irgend etwas seine Einwilligung geben, ohne uns vorher befragt zu haben», sagte Percy.
«Hören Sie mir nur eine Minute zu
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