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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Stuhl, auf dem sie saß. Für Augenblicke vergaß sie, daß sie ja fortgehen mußte. Plötzlich kam ihr wieder die furchtbare Gewißheit. Ein letztes Mal sah sie ihn an, ohne daß er die Arme ausbreitete, um sie zurückzuhalten. Es war zu Ende. Und ihr Gesicht war wie erstorben, vernichtet.
    Zunächst wechselten sie die üblichen belanglosen Redensarten.
    »Du schreibst mir doch, nicht wahr?«
    »Gewiß, und du gib mir auch so oft wie möglich Nachricht!«
    »Vor allem ruf mich sofort zurück, wenn du krank wirst.«
    »Ich verspreche es dir. Aber hab keine Angst, ich bin kräftig.«
    In dem Augenblick dann, als Clotilde das geliebte Haus verlassen sollte, umfaßte sie es noch einmal mit unsicherem Blick. Und sie warf sich an Pascals Brust, hielt ihn in ihren Armen und stammelte:
    »Ich will dich hier umarmen, ich will dir danken … Meister, du allein hast mich zu dem gemacht, was ich bin. Wie du so oft gesagt hast – du hast mein Erbgut korrigiert. Was wäre dort unten aus mir geworden, in der Umgebung, in der Maxime herangewachsen ist … Ja, wenn ich etwas wert bin, so danke ich es dir allein, dir, der du mich in dieses Haus der Wahrheit und der Güte verpflanzt hast, wo du mich hast aufwachsen lassen, würdig deiner Liebe … Heute, nachdem du mich dir zu eigen gemacht und mit deinen Gaben überschüttet hast, schickst du mich wieder zurück. Dein Wille geschehe, du bist mein Herr, und ich gehorche dir. Ich liebe dich trotzdem, ich werde dich immer lieben.«
    Er drückte sie an sein Herz und erwiderte:
    »Ich will nur dein Bestes, ich vollende mein Werk.«
    Und beim letzten herzzerreißenden Kuß, den sie tauschten, seufzte sie mit ganz leiser Stimme:
    »Ach, wenn das Kind gekommen wäre!«
    Und sie glaubte zu hören, wie er noch leiser, in einem Schluchzen, undeutliche Worte stammelte.
    »Ja, das erträumte Werk, das einzig wahre und gute, das Werk, das ich nicht habe vollbringen können … Vergib mir und versuche, glücklich zu sein.«
    Die alte Frau Rougon war auf dem Bahnhof, sehr fröhlich, sehr lebhaft trotz ihrer achtzig Jahre. Sie triumphierte, sie glaubte ihren Sohn Pascal ganz in der Hand zu haben. Als sie sah, daß die beiden wie betäubt waren, kümmerte sie sich um alles, löste die Fahrkarte, gab das Gepäck auf, brachte die Reisende in einem Damenabteil unter. Dann sprach sie lange von Maxime, gab Verhaltensmaßregeln, verlangte, daß man sie auf dem laufenden halte. Doch der Zug wollte nicht abfahren, es vergingen noch fünf furchtbare Minuten, in denen sie einander gegenüberstanden und sich nichts mehr zu sagen wußten. Endlich ging alles im Aufbruch unter, man umarmte sich, Räder kreischten laut, Taschentücher wurden geschwenkt.
    Plötzlich bemerkte Pascal, daß er allein auf dem Bahnsteig stand, während der Zug weit hinten in einer Gleiskurve verschwand. Da hörte er nicht mehr auf seine Mutter und rannte in wildem Galopp los wie ein junger Mann, lief den Abhang hinauf, sprang über die mörtellos gefügten Stufen und war in drei Minuten auf der Terrasse der Souleiade. Dort wütete der Mistral, eine gewaltige Bö, die die hundertjährigen Zypressen wie Strohhalme niederbog. Die Sonne am farblosen Himmel schien all dieses Sturmes müde, der ihr nun schon seit sechs Tagen mit unverminderter Heftigkeit über das Gesicht fuhr. Und gleich den zerzausten Bäumen hielt Pascal stand mit seinen wie Fahnen klatschenden Kleidern, seinem sturmgepeitschten fliegenden Bart und Haar. Außer Atem, beide Hände aufs Herz gepreßt, um das wilde Klopfen zu beschwichtigen, sah er in der Ferne den Zug durch die flache Ebene fliehen, einen ganz kleinen Zug, den der Mistral wie einen vertrockneten Zweig fortzufegen schien.
     

Kapitel XII
    Gleich am nächsten Tag schloß sich Pascal in dem großen leeren Hause ein. Er ging nicht mehr aus, gab die wenigen Arztbesuche, die er sonst noch gemacht hatte, gänzlich auf und lebte bei geschlossenen Fenstern und Türen in vollkommener Einsamkeit und Stille. Martine hatte den ausdrücklichen Befehl erhalten, unter keinen Umständen irgend jemand hereinzulassen.
    »Aber Herr Doktor, auch nicht Ihre Mutter, Madame Félicité?«
    »Meine Mutter schon gar nicht. Ich habe meine Gründe … Sagt ihr, daß ich arbeite, daß ich mich konzentrieren muß und sie bitte, mich zu entschuldigen.«
    Dreimal kurz hintereinander erschien die alte Frau Rougon. Sie wetterte im Erdgeschoß; er hörte, wie sie mit lauter Stimme sprach, wie sie in Zorn geriet und sich den Zutritt erzwingen

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