Dokument1
Wege.«
»Das wird mir nie passieren«, erwiderte Ellie mit der unerschütterlichen Überzeugungskraft einer gerade Fünfzehn-jährigen.
Ich saß im Wohnzimmer und fragte mich, ob es tatsächlich so war - Hirngespinste, an denen mein langer Krankenhausauf-enthalt schuld war, was LeBay zunächst vermutet hatte, und ein Sich-Auseinanderleben, eine sich erweiternde Kluft zwischen Freunden aus Kindertagen. Ich erkannte eine gewisse Logik darin, sogar bis hin zu meiner Fixierung auf Christine, sie war der Keil, der zwischen uns getrieben wurde.
Das ließ die harten Tatsachen außer acht, aber es war bequem. Diese Betrachtungsweise gestattete Leigh und mir, unser Alltagsleben fortzusetzen - an schulischen Aktivitäten teilzunehmen, für den Leistungstest im März zu büffeln und uns sofort um den Hals zu fallen, sobald ihre oder meine Eltern das Zimmer verlassen hatten. Und mit einer Leidenschaft zu schmusen, die dem entsprach, was wir waren: zwei überreizte Teenager, die total ineinander vernarrt waren.
Diese Dinge lullten mich ein… lullten uns beide ein. Wir waren vorsichtig gewesen - so vorsichtig, als wären wir Ehe-brecher und keine verliebten Kinder -, doch heute war mir der Gips abgenommen worden, heute hatte ich zum erstenmal die Schlüssel meines Duster wieder benutzen können, statt sie immer nur anzustarren; und einem Impuls folgend, hatte ich Leigh angerufen und sie gefragt, ob sie mit mir in das weltberühmte Feinschmeckerlokal »Colonels’« fahren und die Spezia-lität des Hauses kosten wollte. Sie war von meinem Vorschlag entzückt.
Und so ist es vermutlich verständlich, daß unsere Vorsicht nachließ, wie wir ein kleines bißchen unbesonnen wurden. Wir saßen im Duster auf dem Parkplatz, während ich den Motor laufen ließ, damit wir nicht beim Sitzen einfroren, und bespra-chen wie zwei Kinder, die Cowboy spielen, wie man diesem alten und unglaublich gerissenen Christine-Monster den Gar-aus machen konnte.
Keiner von uns bemerkte Christine, als sie hinter uns in eine Parklücke rollte.
»Er hat sich auf eine lange Belagerung eingerichtet, wenn das nötig sein sollte«, sagte sie.
»Häh?«
»Hast du nicht gehört, an welchen Universitäten er sich beworben hat? Ist dir da noch kein Licht aufgegangen?«
»Offenbar nicht«, erwiderte ich verwirrt.
»Es sind die Universitäten, bei denen ich mich beworben habe«, sagte sie.
Ich sah sie an.
Sie versuchte ein Lächeln, schaffte es nicht.
»Okay«, sagte ich, »gehen wir die Möglichkeiten noch einmal durch. Molotow-Cocktails sind gestrichen. Dynamit ist zu riskant; aber im äußersten Notfall…«
Leighs scharfer keuchender Laut stoppte mich mitten im Satz
- das und der Ausdruck jähen Entsetzens auf ihrem Gesicht.
Sie starrte durch die Windschutzscheibe, die Augen weit aufgerissen, den Mund offen stehen. Ich folgte ihrem Blick, und was ich sah, war ein solcher Schock, daß ich eine Weile wie gelähmt dasaß.
Arnie stand vor dem Kühler meines Duster.
Er hatte direkt hinter uns geparkt und war hineingegangen, um sich ein Brathähnchen zu kaufen, ohne zu merken, hinter wem er parkte, und warum sollte er auch? Es war fast dunkel, und ein dreckig-speckiger vier Jahre alter Duster sieht aus wie der andere. Er war in das Lokal gegangen, hatte sich sein Essen einpacken lassen und war herausgekommen… und starrte durch die Windschutzscheibe auf Leigh und mich, die wir nebeneinander saßen, eng umschlungen, und uns tief in die Augen sahen, wie Dichter sich auszudrücken pflegen. Nichts als ein Zufall - ein scheußlicher, dummer Zufall. Nur daß auch heute noch ein Teil’meines Verstandes kühl behauptet, es wäre Christine gewesen… daß Christine ihn hergelenkt hatte.
Es folgte ein langer, erstarrter Augenblick. Ein leises Stöhnen drang über Leighs Lippen. Arnie stand schräg vor meinem Wagen, er trug sein Schuljackett, verblichene Jeans und Stiefel.
Ein karierter Schal war um seinen Hals geknotet. Der Kragen seines Jacketts war hochgeschlagen, und seine schwarzen Ecken rahmten ein Gesicht ein, das sich nun langsam von einer Maske sprachloser Ungläubigkeit in die bleiche Grimasse des Hasses verwandelte. Die rot-weiß gestreifte Tüte mit dem rund-lich grinsenden Gesicht des Colonel entglitt seinen behandschuhten Händen und landete dumpf auf dem hartgebackenen Schnee des Parkplatzes.
»Dennis«, flüsterte Leigh, »Dennis, oh, mein Gott!«
Dann fing er an zu laufen. Ich dachte, er hielt direkt auf meinen Wagen zu, vermutlich, um mich
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