Dokument1
entfernt, und ein Mann, der auch schon Mitte Sechzig sein mußte, warf eine Handvoll Erde auf den Sarg, und kleine Steinchen kollerten seitlich hinab und in die Grube. In der Sterbeanzeige hatte etwas von einem Bruder und einer Schwester gestanden. Das mußte also sein Bruder sein; die Ähnlichkeit war nicht überwältigend, aber sie war da. Die Schwester hatte es offenbar nicht mehr rechtzeitig geschafft, denn da standen nur noch diese uniformierten Männer um die Grube herum.
Zwei von diesen Kriegsveteranen falteten nun die Fahne zusammen, bis sie einen Dreispitz bildete, und überreichten sie mit strammer Gebärde dem trauernden Bruder LeBays. Der Prediger erbat den Segen des Herrn für die Anwesenden und daß er sein Antlitz leuchten lasse über sie und ihnen seinen Frieden gebe. Dann ging die Versammlung auseinander. Ich sah mich nach Arnie um, doch Arnie stand nicht mehr neben mir. Ich entdeckte ihn ein Stück entfernt unter einem Baum.
Tränen glitzerten auf seinen Wangen.
»Bist du okay, Arnie?« fragte ich. Mir wurde bewußt, daß ich da unten kein feuchtes Auge gesehen hatte, und wenn Roland D. LeBay geahnt hätte, daß Arnie Cunningham der einzige sein würde, der bei seiner kargen Beerdigung auf einem der abgele-genen Friedhöfe Pittsburghs weinte, hätte er bestimmt fünfzig Dollar von dem Preis für seine Mistkarre nachgelassen. Dann hätte Arnie immer noch hundertfünfzig Dollar mehr bezahlt, als sie wirklich wert war.
Arnie verrieb mit dem Handballen die Tränen auf seinem Gesicht. Es war eine eher wütende Geste. »Okay«, sagte er heiser, »gehen wir.«
Ich nickte, weil ich dachte, er wollte wieder zum Parkplatz zurück, wo ich meinen Duster abgestellt hatte, aber er ging den Hügel hinunter. Ich wollte ihn fragen, wo er denn hin wollte, und hielt dann lieber den Mund. Ich wußte, was er vorhatte. Er wollte mit LeBay s Bruder reden.
Der Bruder stand noch am Grab, die Flagge unter den Arm geklemmt wie eine Aktentasche, und unterhielt sich mit zwei von diesen Legionärstypen. Er trug den Anzug eines Senioren, der die Jahre bis zur ersten Rentenzahlung aus mageren Quellen finanzieren muß: Es war ein blauer Nadelstreifenanzug mit leicht speckiger Gesäßpartie. Seine Krawatte hatte einen ausgefransten Saum, das weiße Hemd einen gelbstichigen Kragen-rand. Er drehte sich zu uns um.
»Entschuldigen Sie«, sagte Arnie, »sind Sie der Bruder von Mr. LeBay?«
»Ja, der bin ich.« Der Bruder musterte Arnie mit einem fragenden und, wie mir schien, auch mißtrauischen Blick.
Arnie streckte ihm die rechte Hand hin. »Mein Name ist Arnold Cunningham. Ich kannte Ihren Bruder flüchtig. Ich habe vor kurzem einen Wagen von ihm gekauft.«
Als Arnie ihm die Hand hinstreckte, hatte LeBay automatisch danach gegriffen - ich glaube, einem amerikanischen Mann ist keine Geste so angeboren wie das Händeschütteln, abgesehen von dem automatischen Griff zum Hosenstall, wenn man aus einer öffentlichen Toilette herauskommt und sich vergewissern will, ob der Reißverschluß tatsächlich zu ist. Als Arme aber den Wagenkauf erwähnte, verharrte LeBays ausgestreckter Arm jäh. Einen Moment lang mußte ich befürchten, das Händeschütteln würde unterbleiben und Arnie wäre um eine Enttäuschung reicher.
Doch LeBay ersparte ihm diese Enttäuschung. Er nahm Arnies Hand flüchtig zwischen zwei Finger und ließ sie dann sofort wieder los.
»Christine«, sagte er dann mit dürrer Stimme. Doch die Familienähnlichkeit war vorhanden - im Schnitt der Augenbrauen, der Kinnlinie und im verwaschenen Blau der Iris. Doch das Gesicht dieses Mannes war insgesamt weicher, fast gütig.
Ich glaube nicht, daß der jüngere Bruder jemals diesen hager-wölfischen Gesichtsausdruck entwickeln würde, den ich bei Roland D. LeBay bemerkt hatte. »In seinem letzten Brief erwähnte Rollie, daß er sie verkauft habe.«
Gütiger Himmel - er verwendete ebenfalls dieses verdammte weibliche Fürwort. Und Rollie! Es war mir nicht möglich, mir unter Rollie einen Mann mit nach Schweiß stinkendem Stützkorsett und schuppenflechtiger Kopfhaut vorzustellen. Aber sein Bruder hatte den Kosenamen mit der gleichen dürren Stimme ausgesprochen:
Kein gerührtes, liebevoll gerolltes großes R.
LeBay fuhr fort: »Mein Bruder schrieb mir nicht oft, aber er fand Vergnügen daran, sich über andere Menschen lustig zu machen, Mr. Cunningham. Ich wünschte, ich könnte mich etwas liebenswürdiger ausdrücken; aber damit werde ich der Wahrheit nicht gerecht. In
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