Dokument1
Es war unser letztes Familientreffen. Ich weiß noch, wie ich auf der Fahrt zur Beerdigung dachte: Jetzt wird er ganz bestimmt den Wagen verkauft haben. Seltsamerweise empfand ich bei diesem Gedanken eine gewisse Enttäuschung. Dieser Wagen hatte eine so große Rolle in Veronicas Briefen gespielt, daß Christine für mich fast schon zu unserer Familie gehörte. Doch Rollie hatte ihn keineswegs verkauft. Er fuhr damit zum Trauergottesdienst in der Methodistenkirche von Libertyville, er hatte ihn frisch gewachst, und Christine glänzte und sah… ich weiß nicht.« Er drehte mir den Kopf zu.
»Können Sie sich vorstellen, Dennis, daß ich den Wagen von diesem Moment an haßte?«
Ich mußte erst schlucken, ehe ich zu einer Antwort ansetzte:
»Ja, das glaube ich Ihnen aufs Wort.«
LeBay nickte grimmig. »Veronica saß auf dem Beifahrersitz wie eine Wachspuppe, und was sie auch für Rollie empfunden haben mochte, war tot. Rollie hatte den Wagen, sie die Tochter gehabt. Sie trauerte nicht nur. Sie starb.«
Ich saß da und versuchte mir vorzustellen, was ich getan hätte. Meine Tochter auf dem Rücksitz fängt an zu röcheln, droht zu ersticken und stirbt am Straßenrand. Würde ich den Wagen verkaufen? Warum? Es war doch nicht der Wagen, der mein Kind getötet hat. Es war ein Stück vom Hamburger oder von einer Semmel gewesen, das ihre Luftröhre verstopfte.
Weshalb also den Wagen verkaufen? Höchstens wegen der Lappalie, daß ich es nicht mehr fertigbrächte, mit ihm zu fahren, ihn nicht einmal anschauen könnte, weil ich sonst Schreikrämpfe bekäme. Weshalb also verkaufen?
»Haben Sie ihn nicht danach gefragt, weshalb er den Wagen nicht verkauft hat?«
»Selbstverständlich fragte ich ihn danach. Marcia war dabei, direkt nach der Beerdigung. Veronicas Bruder brachte seine Schwester gleich nach Hause - die Arme, sie sah aus wie eine wandelnde Leiche.
Wir nahmen ihn beiseite, Marcia und ich. Die Familie unter sich. Ich fragte ihn, ob er denn das Auto nicht verkaufen wolle.
Er parkte direkt hinter dem Leichenwagen, in dem der Sarg seiner Tochter zum Friedhof gebracht worden war - zum gleichen Friedhof, auf dem Rollie heute selbst beerdigt wurde. Eine frisch gewachste rot-weiße Pracht - Chrysler hat das 1958er Modell Plymouth Fury nie in diesen Farben angeboten. Rollie hatte diese Sonderlackierung eigens bestellen müssen. Wir standen nur dreißig Schritt von dem Plymouth entfernt, und ich hatte ein eigenartiges Gefühl… als müßten wir weiter weg… als würde der Wagen uns zuhören.«
»Was haben Sie zu Ihrem Bruder gesagt?«
»Nun - ich fragte ihn, ob er den Wagen nicht verkaufen wolle. Und dabei nahm sein Gesicht diesen harten, steinernen, störrischen Zug an, an den ich mich nur zu gut erinnern konnte, weil er mich ebenso angesehen hatte, als er mich gegen den Staketenzaun warf. Diesen harten, jähzorni-gen Blick, mit dem er meinen Vater ansah, als er ihn einen Saufkopf schimpfte. Er sagte: >Ich wäre ja verrückt, wenn ich sie wieder verkaufen würde, George. Sie ist erst ein Jahr alt und hat gerade 11000 Meilen hinter sich. Es lohnt sich erst, einen Wagen abzustoßen, der drei Jahre alt ist. Alles, was darunter liegt, ist ein Verlustgeschäft< Ich sagte: >Wenn es dir dabei nur um Geld geht, hast du statt deines Herzens einen Stein in der Brust. Willst du etwa deiner Frau zumuten, daß sie sich jeden Tag diesen Wagen anschauen oder gar damit fahren muß? Gütiger Himmel, was denkst du dir eigentlich dabei?<
Sein Blick veränderte sich nicht. Nur als er zu seinem Plymouth hinüberschaute, der hinter dem schwarzen Leichenwagen in der Sonne glitzerte wie ein Spiegel, kam ein sanfter Glanz in seine Augen. Ich weiß noch, daß ich mich damals fragte, ob er seine Tochter jemals so angeschaut hatte. Ich glaube es nicht. Das steckte einfach nicht in ihm drin.«
LeBay schwieg wieder einen Moment und fuhr dann fort:
»Marcia sagte ihm dasselbe wie ich. Sie hatte sich immer vor Rollie gefürchtet, doch an diesem Tag war ihr Zorn stärker als ihre Angst - schließlich hatte sie in einem lebhaften Briefverkehr mit Veronica gestanden, und deshalb wußte sie, wie sehr Veronica das kleine Mädchen liebte. Marcia sagte ihm, daß man die Kleider eines Toten der Heilsarmee schenkt und die Matratze verbrennt, auf der er geschlafen hat. Man zieht einen Schlußstrich unter das Leben des Verstorbenen, damit die Trauer und der Schmerz nicht ewig dauern und die Angehörigen weiterleben könnten. Solange der Plymouth, in dem
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