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Dokument1

Dokument1

Titel: Dokument1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unknown
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Höhepunkt, und schließlich fiel seine Wahl auf Christine. Ich bekam einen langen Brief über sie. Christine sei ein 1958er Fury-Sport-coupe, und dann folgte eine lange Liste von technischen Daten. Ich habe sie natürlich nicht im Kopf, aber ich wette, Ihr Freund kann sie Ihnen auswendig herbeten.«
    »Und ihre Maße«, sagte ich.
    LeBay lächelte humorlos. »Richtig, und ihre Maße. Ich kann mich nur daran erinnern, daß ihr Listenpreis damals knapp unter 3000 Dollar lag, aber er hat so lange gefeilscht, bis er Christine für 2100 Dollar bekam. Er bestellte sie, zahlte zehn Prozent an, und als sie überführt wurde, bezahlte er den Rest in bar - in Zehn- und Zwanzig-Dollar-Scheinen.
    Ein Jahr später, kurz nach ihrem sechsten Geburtstag, erstickte seine Tochter.«
    Das kam so beiläufig und unvermittelt, daß ich fast vom Stuhl gekippt wäre. Seine weiche Gelehrtenstimme hatte eine einschläfernde Wirkung, und ich war hundemüde. Ich glaube, ich döste schon ein bißchen, aber dieser Satz wirkte auf mich wie ein Guß eiskalten Wassers.
    »Ja, Sie haben sich nicht verhört«, sagte er, als er meine Betroffenheit bemerkte. »Es geschah bei einem Ausflug mit dem Wagen. Zuerst war es die Jagd nach dem richtigen Wagen gewesen, nun war es die Jagd mit diesem Wagen. Motorwan-dern, nannte Rollie das. Jeden Sonntag waren die drei mit dem Wagen unterwegs. Er hatte dem Mädchen streng verboten, irgend etwas auf den Boden zu werfen, und extra für sie einen Abfallkorb an der Rückenlehne befestigt. Die Kleine wagte sich auf dem Rücksitz kaum zu rühren. Sie…« Er brach wieder mitten im Satz ab, verfiel in sein seltsam brütendes Schweigen und fuhr dann ganz anders fort:
    »Rollie war zwar ein starker Raucher, aber er duldete keine Kippen in seinen Autoaschenbechern. Niemals. Er warf die Kippen zum Fenster hinaus. Wenn er einen Fahrgast hatte, dem er schlecht die Benützung der Aschenbecher verbieten konnte, leerte er die Dinger sofort nach der Fahrt und wischte sie mit einem Papiertaschentuch aus. Er wusch seinen Wagen zweimal pro Woche, und zweimal im Jahr wurde er gründlich gewachst. Er machte alle Inspektionen selbst und mietete sich dafür einen Werkstattplatz.«
    Ich mußte an Darnells Wellblechschuppen denken.
    »An diesem bestimmten Sonntag hielt Rollie auf der Heimfahrt bei einer Imbißbude an - damals gab es noch keine McDonald’s, sondern nur Fritten- und Hamburger-Buden. Und was dann geschah… nun ja, eigentlich alles ganz einfach…«
    Wieder dieses Schweigen, als müsse er überlegen, wieviel er mir anvertrauen durfte oder wie er seine Vermutungen von gesicherten Tatbeständen trennen konnte.
    »Sie erstickte an einem Stück Fleisch«, sagte er schließlich.
    »Als sie zu röcheln begann und sich mit ihren Händen an den Hals griff, hielt Rollie am Straßenrand an, zog sie aus dem Wagen, schlug ihr heftig mit der Hand auf den Rücken, damit der Bissen, der in ihrer Luftröhre steckengeblieben war, sich wieder löste. Inzwischen hat man für diesen Notfall eine Methode entwickelt, die sich sehr gut bewährt hat - das sogenannte >Heimlich-Manöver<. Vor einem Jahr hatte eine junge Kollegin von mir tatsächlich einen Schüler in der Cafeteria vor dem Erstickungstod gerettet, indem sie die bei dem Heimlich-Manöver vorgeschriebenen Griffe anwendete. Aber damals…
    Meine Nichte starb am Straßenrand. Ich glaube, sie hatte einen elenden, ja entsetzlichen Tod erlitten.«
    Seine Stimme war immer noch einlullend wie bei einer Vorlesung, doch diesmal döste ich nicht ein. Im Gegenteil, ich war hellwach.
    »Er versuchte, sie zu retten. Das glaube ich. Und ich versuche auch zu glauben, daß ihr Tod nur ein schrecklicher Unfall war. Jahrzehntelang war er einem Beruf nachgegangen, in dem Rücksichtslosigkeit eine Tugend ist, und ich bezweifle, daß er seine Tochter liebte. Doch manchmal, wenn es um Leben und Tod geht, kann mangelnde Liebe eine rettende Tugend sein.
    Zuweilen ist Rücksichtslosigkeit die einzig erfolgversprechende Methode.«
    »Diesmal offenbar nicht«, sagte ich.
    »Als das Schlagen auf den Rücken nichts half, packte er sie bei den Beinen und schüttelte sie, mit dem Kopf nach unten, in der Hoffnung, daß sie sich übergeben müßte. Ich bin sicher, er hätte sogar mit dem Taschenmesser einen Luftröhrenschnitt versucht, wenn er nur ungefähr gewußt hätte, wie man so etwas anfängt. Aber das tat er natürlich nicht. Sie starb.
    Marcia kam mit ihrem Mann und ihrer Familie zur Beerdigung. Ich ebenfalls.

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