Dolch und Münze (02): Königsblut (German Edition)
voran und trug seine Lederrüstung und ein Schwert an der Seite. Wenig menschenfreundlich wünschte sie sich jetzt, sie hätte Vincen Coe nicht weggeschickt. Ein zusätzliches Schwert entweder hier bei ihr oder im Anwesen, das Dawsons Rücken deckte, wäre hochwillkommen gewesen. Im Norden brannten Feuer.
Die Stadt hatte sich verwandelt. Die breiten Straßen schie nen gefährlich, zu offen, so dass man zu leicht fremden Blicken ausgesetzt war. Die Schatten riefen Clara zu sich, versprachen Schutz in ihrer verschleiernden Dunkelheit. So wie Sabiha sich beim Gehen dicht an sie drängte, nahm sie an, dass es dem Mädchen ähnlich ging. Diese dunklen Gebäude und schwarz gepflasterten Straßen waren nicht die Stadt, in der sie gelebt hatten, sondern ein unbekannter, unsicherer, übler Ort, der die Maske ihrer Heimat trug.
Sie erreichten den Platz, wo bei Tageslicht Bauern ihre Waren an die Diener der großen Häuser auf der Westseite des Spalts verkauften. Der Geruch von verfaulenden Blättern in den Abflüssen zeigte an, wo man das Grünzeug, das am vorigen Tag zu Boden gefallen war, in den Schmutz gestampft hatte. Gegenüber schritt eine Männergruppe auf den Platz, die Fackeln hoch über den Kopf erhoben. Ohne ein Wort traten Clara und Jorey in den Alkoven eines kleinen Ladens und zogen Sabiha mit sich. Das Fackellicht schien zu hell; es schmerzte, zu genau hinzusehen. Die Männer schrien sich gegenseitig etwas zu, raue Stimmen, die trunken waren von Gewalt und Wein. Sie schlugen den Weg ein, auf dem Clara gerade hergekommen war. Zum Anwesen und zu Dawson. Clara kniff die Augen zusammen, um die Farben erkennen zu können, die die Männer trugen, und versuchte zu erraten, ob sie Verbündete waren, die kamen, um die Stellung zu verstärken, oder Feinde, die bereit waren zu töten, zu plündern und zu brandschatzen. Sie konnte es nicht sagen, und sie traute sich nicht näher heran.
Als der letzte von ihnen vorüber war, schlich Jorey hinaus, und Clara und Sabiha folgten ihm. Sabiha nahm Claras Hand und wollte sie nicht loslassen. Clara zog das Mädchen an sich heran. Irgendwo rechts von ihnen schrie eine Frau. Falls die Stadtwache heute Nacht unterwegs war, sah Clara zumindest keine Spur von ihr. Die Frau hörte plötzlich auf, und Clara konnte nichts tun, als sich einzureden, dass ihr jemand zu Hilfe gekommen war; sie konnte sich nicht dazu bringen, daran zu glauben.
Auf halbem Weg zum Westtor kamen sie an eine Barrikade auf der Straße. Tische, Stühle, Kisten und ein breites, umgeworfenes Fuhrwerk. Auf beiden Seiten des Hindernisses waren Männer. Sie konnte nicht sagen, ob es gedacht war, um Leute wie sie aufzuhalten, die aufs Land fliehen wollten, oder um Soldaten und Schläger davon abzuhalten, die Stadt zu betreten. Die Männer trugen keine Uniformen. Keine Banner irgendwelcher Häuser wehten. Wenn der Krieg Gewalt war, die anhand von Regeln und Traditionen auf einem ehrenvollen Schlachtfeld ausgetragen wurde, dann war dies kein Krieg, sondern etwas Schlimmeres.
»Was machen wir?«, fragte Clara flüsternd.
»Kommt mit«, sagte Jorey.
Die Seitengasse war schmutzig, aber Clara konnte daran nichts Schlimmes finden. Wenn der Saum ihres Umhangs durch das Blut eines Schlachthauses gezogen wurde, war es eben nichts weiter als das, was diese Nacht verlangte. Etikette und zarte Befindlichkeit hatten ihren Platz, aber er war nicht hier. Jorey reckte den Hals, blickte zum nächtlichen Himmel auf, wie es schien, als ob die Sterne herabstoßen und sie wegtragen könnten. Sein leises, erfreutes Brummen zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.
»Was?«, fragte sie.
»Dieses Dach«, antwortete er und deutete auf eine einstöckige Schenke, deren Lichter gedämpft und deren Läden verschlossen waren. »Wenn ich dich hochhebe, kommst du dann hinauf?«
Clara sah sich das Gebäude an. Es war Jahrzehnte her, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, das dort herumkletterte, wo es nicht klettern sollte. Und selbst damals waren es meistens Bäume gewesen.
»Ich kann es versuchen«, sagte sie.
»Gut«, erwiderte Jorey.
Sie hoben Sabiha zuerst hinauf, und dann schob Jorey Clara in Sabihas wartende Hände. Er kletterte als Letzter hinauf. Mit lautlosen Gesten führte er sie am Dachfirst entlang zu einem Alkoven, wo sich eine Holzleiter in der Dunkelheit verbarg.
»Wenn ihr dort hinaufsteigt«, flüsterte Jorey, »gibt es einen Ort, an dem wir die Leiter über die Gasse legen können und an der Barrikade vorbeikommen. Vorausgesetzt,
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