Dolch und Münze (02): Königsblut (German Edition)
sie schauen nicht nach oben.«
»Ich fange langsam an zu glauben, dass ich dich nicht gut erzogen habe«, sagte Clara, aber sie stieg die Leiter empor. Vom höchsten Punkt aus schien die Straße sehr weit entfernt. Die Männer an der Barrikade lachten gemeinsam, scherzten auf eine Art und Weise, die ihre Angst und Anspannung deutlicher hervortreten ließ als Sonnenlicht.
Sabiha kletterte nach oben neben Clara, während Jorey sich hinkniete und die Leiter langsam, eine Stufe nach der anderen, heraufzog.
Clara blickte über die Stadt hinaus. Ihre Stadt. Es gab inzwischen weitere Rauchwolken, aber die eine, die der Königshöhe am nächsten war, verblasste langsam. Entweder hatte jemand eine Löschmannschaft zusammengestellt, oder das Gebäude, das Feuer gefangen hatte, war bis auf den blanken Stein ausgebrannt. Weit entfernt waren die Mauern der Stadt mit Fackeln gesprenkelt, und der niedrige Halbmond schien den Kopf auf das Westtor zu betten.
Das Westtor.
»Halt«, sagte Clara. »Du kannst die Leiter wieder nach unten stellen.«
»Nein, es wird schon gehen«, erwiderte Jorey. »Ich weiß, dass es nicht besonders stabil aussieht, aber ich habe das schon einmal gemacht. Es war eine Wette, die wir abgeschlossen haben, als ich …«
»Die Tore sind geschlossen«, unterbrach ihn Clara. »Jemand hat die Stadt abgeriegelt.«
Jorey erschien neben ihr. Die Stadtmauer war nicht sonderlich weit entfernt. Im Tageslicht und ohne diesen Wahnsinn hätte man von der Straße unter ihnen in ein paar Minuten zu den großen Toren gelangen können. Selbst in der Dunkelheit stand es außer Frage, dass die breiten Bronzetore verschlossen waren. Verschlossen und vermutlich aus den Angeln gehoben, wie es in Kriegszeiten geschah.
»Wir sitzen in der Falle«, flüsterte Sabiha.
»Ja«, bestätigte Clara.
M ARCUS
ALS DIE BERICHTE KAMEN, regnete es gerade in Porte Oliva – die Art von sintflutartigem Sommergewitter, das am Morgen als neuer Geruch im Wind unter einem vollkommen blauen Himmel begann und mittags schon in den Straßen und zwischen den Mauern tobte. Es verwandelte die Straßen in knöcheltiefe Bäche und spülte den Abfall, Kot und die toten Tiere aus ihren verborgenen Winkeln hinaus ins Meer. Marcus kämpfte gegen den Wind, aber er rannte nicht. Schabe hatte die Nachricht überbracht, dass Pyk ihn im Kontor brauchte. Binnen einer Minute, nachdem er hinausgegangen war, war er so durchnässt gewesen, wie man es nur sein konnte. Es schien sinnlos zu rennen.
Die Tulpen in ihren Schalen waren leuchtend rot. Einige Blüten fehlten, und als er näher kam, riss ein Windstoß eine weitere ab. Marcus sah ihr nach, während sie auf der Flut davontrudelte: ein kleines scharlachrotes Boot auf einem breiten Fluss. Er schob sich durch den Eingang.
Pyk ging drinnen auf und ab. Schweißperlen standen auf ihrer breiten Stirn, aber der Regen hatte das Zimmer so weit abgekühlt, dass sie sich zumindest bewegen konnte. Yardem saß auf einem hohen Hocker, roch nach nassem Hund und war mindestens ebenso durchnässt wie Marcus. Sonst war niemand da.
»Heute Morgen kam der Vogel«, sagte Pyk ohne Einleitung. »Die Dachgesellschaft hat ihn geschickt.«
»Gut, dass er nicht bis zum Nachmittag gewartet hat«, erwiderte Marcus, der seine Hemdaufschläge auswrang. »Haben sie sich entschlossen, einen neuen Auditor zu schicken?«
»Morgen oder übermorgen werden auch andere Leute davon Nachricht erhalten, also werden wir schnell handeln müssen. In Antea gibt es Schwierigkeiten. Unserem Mann in Camnipol zufolge hat man versucht, den Lordregenten mit Messern zu spicken. Sie haben die Tore geschlossen, und seither wird in den Straßen gekämpft. Man kann wohl von einem Bürgerkrieg ausgehen.«
Die Worte brauchten einen Augenblick, bis sie ankamen. Yardems große braune Augen waren auf ihn gerichtet und beobachteten, wie er langsam begriff.
»Ich habe eine Liste von Verträgen, die ich ausgeliefert haben will«, sagte Pyk, »aber es muss heute erledigt werden. Sobald die Neuigkeiten bekannt sind, werden die Getreide- und Eisenwarenpreise gen Himmel steigen. Wir haben vielleicht nur Stunden, um das durchzuziehen, und dann muss es natürlich an dem Tag sein, an dem wir alle Tinte von einem Stück Papier waschen können, indem wir es nur zu Fuß zur nächsten Ecke tragen. Gott hasst mich, aber wir werden tun, was wir können.«
»Was ist mit Cithrin?«, fragte Marcus.
Pyk machte ein finsteres Gesicht. Sie schaute ihm nicht in die Augen. »Die
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