Dolly - 01 - Dolly sucht eine Freundin
zu viel nachahmen, Dolly. Sieh einmal: Was du tust, tust du mit ganzem Herzen – und wenn du Unsinn anstellst, müssen die anderen Dinge natürlich darunter leiden. Alice ist anders; sie kann zwei oder drei Dinge recht gut zur gleichen Zeit tun. Das hat gewiß seine Vorteile, aber die besten Menschen in der Welt sind immer die, die aus vollem Herzen handeln – falls sie sich für die richtigen Dinge entscheiden.”
“Ich verstehe”, sagte Dolly. “Wie mein Vater. Er handelt auch so. Er ist Chirurg, und er setzt sich immer mit ganzem Herzen ein, um durch seine Operationen kranken Menschen die Gesundheit zurückzugeben.”
“Ein gutes Beispiel”, sagte Fräulein Pott. “Wenn er sich nebenher noch mit einem halben Dutzend anderer Dinge befassen würde, wäre er wahrscheinlich kein guter Arzt. Und wenn du irgend etwas wählst, das dir wert scheint, ob es nun Heilen oder lehren oder Schriftstellern oder Malen ist, so bist du am besten mit deinem ganzen Herzen dabei!”
Dolly ging recht kleinlaut weg. Wie schade, daß sie nicht mit ganzem Herzen bei ihrer Arbeit gewesen und an die Spitze der Klasse gekommen war!
Am Sonnabend kamen auch Evelyns Mutter und Fräulein Winter, ihre frühere Lehrerin.
Evelyn wartete auf die Gelegenheit, sich vor ihnen aufzuspielen. Fräulein Winter sollte ein wenig beschämt sein, wenn sie von dem großartigen Unterricht und Evelyns hervorragenden Leistungen hörte.
Marlies bekam keinen Besuch. Sie war sehr enttäuscht darüber.
Doch Evelyn redete ihr freundlich zu. “Mach dir nichts draus, Marlies. Du kannst den ganzen Tag mit meiner Mutter, Fräulein Winter und mir zusammensein.”
Marlies aber gefiel dieser Vorschlag gar nicht sehr. Sie war Evelyns ständige Aufschneidereien leid. Evelyn genoß es jedoch, eine so geduldige Zuhörerin zu haben, obwohl sie Marlies insgeheim gerade deshalb verachtete, weil sie ihre Geschichten meist widerspruchslos hinnahm.
Als Dolly erfuhr, daß Marlies keinen Besuch bekam, ging sie zu ihr. “Möchtest du vielleicht am Sonnabend mit meinen Eltern und mir mitkommen?” fragte sie. “Wir machen mit dem Wagen einen schönen Ausflug.”
Marlies dachte an Evelyns Einladung, und sie erzählte Dolly davon.
“Nicht so schlimm”, meinte Dolly. “Sag ihr einfach, daß ich dich gebeten hätte und meine Eltern dich gern kennenlernen wollten.”
“Hm… im weiß nicht, ob ich mich das getraue”, sagte Marlies. “Evelyn wird vielleicht ärgerlich… besonders weil sie dich nicht mag, Dolly.”
“Du scheinst also lieber mit Evelyn zu gehen als mit mir?”
“Dolly! Wie kannst du so etwas sagen I” rief Marlies und weinte fast. “Im… im… im würde viel, viel lieber mit dir zusammensein.”
“Dann rede mit Evelyn”, sagte Dolly. “Wenn du etwas nicht gern tust, wirst du doch wohl den Mut aufbringen, es dir vom Hals zu schaffen. Du bist ein schrecklicher kleiner Feigling!”
“Im weiß”, rief Marlies verzweifelt. “Aber sag das doch nicht immer wieder! Das macht es nur noch schlimmer. Rede du doch mit Evelyn!”
“Ich werde mich hüten”, antwortete Dolly. “Das ist und bleibt deine Sache.” Damit drehte sie sich um und ging weg.
Marlies sah ihr voll Verzweiflung nach. Jenny war gerade in der Nähe. Sie hatte alles mit angehört. Marlies tat ihr ein bißchen leid. Sie ging Dolly nach und sagte vorwurfsvoll: “Du warst ganz schön hart mit Marlies.”
“Das ist nur gut für sie”, meinte Dolly. “Wenn ich ihr ein wenig Mut machen kann, wird sie es mir danken. Sie soll sich schämen, weil sie nicht zu Evelyn geht und mit ihr spricht.”
“Darin hast du ganz recht. Nur die Art, wie du ihr Mut machen willst, scheint mir nicht richtig”, sagte Jenny.
Evelyn erfuhr von Dollys Einladung an Marlies. Aber offenbar war Marlies nicht geneigt, sie anzunehmen. So glaubte Evelyn jedenfalls. Erfreut darüber, schürte sie das Feuer kräftig. “Unverschämt von Dolly, dich einzuladen, nachdem ich es schon getan hatte!” sagte sie. “Ich bin froh, daß du den Anstand hattest, ihr abzusagen, Marlies. Sicherlich möchtest du nicht mit einem Mädchen gehen, das dich mitleidig von oben herab behandelt!”
“Nein”, antwortete Marlies. Mehr konnte sie nicht sagen. Wie gern hätte sie tapfer “Doch!” gerufen, aber sie brachte es einfach nicht fertig.
Der Sonnabend dämmerte klar und hell herauf. Das Meer glitzerte im Sonnenschein und war glatt wie ein Spiegel. Schon am frühen Morgen brachten die Mädchen ganze Ladungen Klappstühle hinunter zum
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