Dolly - 04 - Dolly, die Klassensprecherin
nicht allein machen?“ fragte Susanne. „Conny tut immer so, als ob Ruth das gar nicht könnte. Sie beherrscht sie einfach zu sehr.“
„Dabei ist sie im Unterricht nicht halb so gut wie Ruth“, sagte Alice. „Ruth hilft ihr jeden Abend, sonst würde sie nie mit der Arbeit fertig. Hinter Ruth ist sie weit zurück.“
„Und doch beherrscht sie sie die ganze Zeit über“, schaltete sich Dolly ein. „Ich mag das gar nicht mehr mit ansehen – und auch nicht, wie Ruth sich fügt.“
„Rede doch mal mit ihr“, sagte Alice sofort. „Als Klassensprecherin, verstehst du?“
Dolly biß sich auf die Lippe. Warum stichelte Alice dauernd so an ihr herum? Vielleicht war sie ein bißchen neidisch. Alice wußte, daß sie selbst niemals eine gute Klassensprecherin abgeben würde, und beneidete doch diejenigen, die es waren; sie versuchte, ihnen das Amt schwer zu machen. Sie, Dolly, sollte einfach keine Notiz davon nehmen. Trotzdem ärgerte sie sich.
„Du hast jetzt eine Menge Pflichten, nicht wahr?“ fuhr Alice fort, während sie sich trockenrieb. „Du mußt auf die kleine Felicitas aufpassen; mußt sehen, daß Clarissa nicht zu viel Gift von unserer lieben Evelyn eingeträufelt bekommt; mußt versuchen, Ruth ein bißchen aufzuputschen, daß sie für sich selbst einsteht; und mußt Betty wegjagen, wenn sie uns bei den Arbeiten stört.“
Dolly merkte, wie es wieder in ihr zu kochen begann.
Da legte sich eine kühle Hand auf ihre Schulter, und sie hörte Susannes ruhige Stimme: „Alles zur rechten Zeit! Es ist doch schade, wenn man die Dinge zu schnell vorantreibt und sie dadurch zerstört. Du kannst nicht alles auf einmal in Ordnung bringen.“
Dolly seufzte tief und erleichtert auf. Sie selbst hätte das sagen sollen – ruhig und freundlich! Welch Glück, daß Susanne es an ihrer Statt gesagt hatte.
Dankbar lächelte sie Susanne an. Dabei beschloß sie, ein wenig mehr auf Felicitas zu achten und zu versuchen, sie von der unangenehmen Irmgard wegzuziehen. Außerdem nahm sie sich vor, eine von den anderen mit Clarissa zusammenzubringen, damit Evelyns Einfluß ausgeschaltet wurde, und sie wollte auch ein paar ruhige Worte mit Ruth wechseln und ihr dabei sagen, daß sie sich nicht von Conny wie ein Baby behandeln lassen durfte.
Wahrhaftig, überlegte Dolly, es ist ganz merkwürdig – wann auch immer eine von uns Ruth anspricht, stets antwortet Conny! Sie nahm sich vor, morgen mit Ruth zu sprechen. Eine gute Gelegenheit dazu bot sich, als sie beide ihre Malkästen auswuschen.
„Wie gefällt es dir in Möwenfels, Ruth?“ fragte Dolly und überlegte, ob Ruth überhaupt in der Lage wäre zu antworten, wenn Conny nicht dabei war!
„Recht gut“, sagte Ruth.
„Ich hoffe, du bist hier glücklich“, sagte Dolly und zerbrach sich den Kopf, wie sie das sagen könnte, was sie wirklich sagen wollte.
Es entstand eine Pause, bevor Ruth höflich antwortete: „O ja, danke.“
Sehr glücklich klang es nicht gerade, dachte Dolly. Warum wohl nicht? Im Unterricht kam Ruth durchaus mit, sie war im Sport gut, sie hatte auch nichts Unangenehmes an sich…
„Ach“, sagte Dolly stotternd und überlegte dabei verzweifelt, daß Susanne eine solche Geschichte viel besser erledigen konnte als sie, „ach… wir meinen, daß du dich… ein wenig zu sehr… von Conny bemuttern läßt. Könntest du nicht… ein bißchen mehr auf eigenen Füßen stehen? Ich meine…“
„Ich weiß genau, was du meinst“, sagte Ruth merkwürdig erregt. „Wenn irgend jemand es weiß, dann bin ich es!“
Dolly glaubte, Ruth wäre beleidigt und zornig. Sie versuchte es noch einmal. „Natürlich weiß ich, daß ihr Zwillinge seid – und Zwillinge schließen sich immer eng aneinander… Deshalb verstehe ich, daß Conny dich so gern hat und…“
„Du verstehst überhaupt nichts“, sagte Ruth. „Rede mit Conny, wenn du willst, aber du wirst trotzdem kein bißchen ändern.“ Damit ergriff sie ihre sauberen Malsachen und ging steif hinaus.
Dolly blieb allein zurück, verwirrt und ärgerlich. Es ist bestimmt nicht gut, wenn ich mit Conny spreche, überlegte sie. Sie wird wahrscheinlich genauso böse werden wie Ruth. Aber sie ruiniert Ruth! Und wenn Ruth sich ruinieren lassen und nichts weiter sein will als ein schwacher Schatten von Conny, dann soll sie! Ich weiß nicht, wie ich sie daran hindern könnte! Man kann Zwillinge nicht voneinander wegziehen, wenn sie zusammenhalten und sich wie eine einzige Person fühlen wollen. Es hat also wenig Zweck, wenn ich
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