Dolly - 04 - Dolly, die Klassensprecherin
verständlich. Wahrscheinlich, weil ihr Zwillinge seid. Conny wäre besser deine ältere Schwester. Dann hättet ihr euch gern wie andere Schwestern auch, ginget in verschiedene Klassen, und alles wäre in Ordnung. Kopf hoch, Ruth! Für dich ist es wirklich gräßlich, aber wahrhaftig, ich verstehe jetzt alles.“
Durch Dollys einfache Erklärung getröstet, sah Ruth auf. Sie fuhr sich mit der Hand über die nassen Augen.
„Dolly, bitte, bitte, verrate Conny nicht, daß ich das alles tat“, sagte sie. „Mir tut es jetzt furchtbar leid. Sie würde es nicht verstehen und wäre furchtbar empört und unglücklich. Das könnte ich nicht ertragen.“
„Ja, aber es kann doch nicht so weitergehen, daß Conny dich kommandiert und du nur ihr Echo bist“, überlegte Dolly. „Ich weiß nicht, wie man dem ein Ende machen soll, ohne mit ihr zu sprechen. Wenn du willst, komme ich mit dir.“ Sie nickte Ruth aufmunternd zu.
Aber Ruth begann wieder so zu schluchzen, daß Dolly diesen Gedanken aufgab. Es läutete zum Abendbrot, und sie stand auf. „Geh jetzt und wasch deine Augen“, sagte sie. „Ich will versuchen, einen anderen Weg zu finden, ohne Conny etwas sagen zu müssen. Es wird freilich schwer sein.“
Schniefend, aber sehr getröstet, zog Ruth ab. Dolly rieb sich die Nase, wie sie es immer tat, wenn sie verwirrt war. Es gibt nur eines, sagte sie schließlich zu sich selbst. Ich muß mit Fräulein Wagner reden. Irgend etwas muß geschehen!
Fräulein Wagner staunte sehr, als Dolly am Abend an ihrer Tür stand und sie um eine Unterredung bat. Zuerst glaubte sie, Dolly würde sie bitten, sie wieder als Klassensprecherin einzusetzen. Aber das war es nicht.
Dolly packte die wunderliche Geschichte der Zwillinge aus. Mit dem größten Erstaunen hörte Fräulein Wagner zu. Was für Dinge in der Schule geschahen!
„Verstehen Sie, Fräulein Wagner“, schloß Dolly, „wenn Ruth es nicht ertragen kann, daß Conny die Sache erfährt, ist alles so schlimm wie vorher. Wenn sie beide nicht versetzt werden, sind sie ja wieder in der gleichen Klasse, und die arme Ruth wird weiter von ihr kommandiert und wird Conny gleichzeitig hassen und lieben. Es muß furchtbar für sie sein!“
Das ist sehr schlimm, dachte Fräulein Wagner erschrocken. Und gefährlich! Denn solche Dinge wirken sich später oft böse aus. Das sagte sie allerdings nicht zu Dolly, die sie ernst beobachtete und auf einen Rat wartete.
„Dolly, es war sicher sehr klug, wie du das herausgefunden hast“, erklärte Fräulein Wagner schließlich. „Du hast sehr vernünftig gehandelt. Ich freue mich sehr über dich.“
Dolly wurde vor Freude rot. „Wissen Sie, wie man alles in Ordnung bringen kann“, fragte sie. „Ach, Fräulein Wagner, ist es nicht ein Jammer, daß Ruth schlechte Arbeiten schrieb? Sonst hätte sich alles von selbst geregelt, wenn die Zwillinge in verschiedenen Klassen gewesen wären.“
„Dolly“, begann Fräulein Wagner nach einer Weile, „was ich dir sage, bleibt nur zwischen dir und mir. Ich habe schon in die Arbeiten hineingesehen. Ruth steht nicht so schlecht, wie sie denkt. Ich glaube sicher, daß sie durchkommt.“
„Ach“, rief Dolly glücklich, „dann bleiben sie also nicht mehr zusammen?“
„Wahrscheinlich nicht“, sagte Fräulein Wagner. „Dadurch wird Ruth auf eigenen Füßen stehen und ihre eigene Persönlichkeit entwickeln können, statt in Connys Schatten zu leben. Es wird alles natürlich und allmählich vor sich gehen, und das ist in diesem merkwürdigen Fall das allerbeste.“
„Und Conny erfährt nichts?“ fragte Dolly.
„Ruth wird es ihr später einmal selbst erzählen“, sagte Fräulein Wagner. „Eines Tages, wenn der rechte Augenblick da ist – und dann werden sie vielleicht darüber lachen. Paß ein bißchen auf Ruth auf! Wirst du das bis zu den Ferien tun, Dolly? Du hast jetzt ihr Vertrauen, und ich verlasse mich auch auf dich, daß zwischen den Zwillingen nichts mehr vorkommt.“
„Ich passe auf“, versprach Dolly. „Ich habe Ruth gern.“
„Und Dolly, in zwei Tagen wirst du wieder Klassensprecherin“, sagte Fräulein Wagner. „Dieses Mal werde ich sehr, sehr stolz auf dich sein!“
Als Fräulein Wagner mit ihrer ruhigen Stimme verkündete, daß Dolly nun wieder die Klassensprecherin sei, freuten sich alle. Zu Susanne sagte sie: „Wir danken dir, daß du den Posten für eine Weile übernahmst. Doch jetzt glaube ich, daß Dolly verdient, wieder eingesetzt zu werden.“
„Weshalb, Dolly? Weshalb hat
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