Dolly - 06 - Abschied von der Burg
war ein
bemerkenswerter Anblick. Die gegen Kritik so überempfindliche
Irmgard mußte wie ein kleines Mädchen aus dem Kindergarten dastehen und sich die Liste ihrer Fehler widerspruchslos anhören. Die
Zuschauer hatten ihr Vergnügen.
Nur Irmgard fühlte sich gar nicht wohl in ihrer Haut. Wenn sie
charakterschwach gewesen wäre, hätte sie vielleicht ihren Entschluß
rückgängig gemacht und den ganzen Kram hingeworfen. Aber
Irmgard war nicht charakterschwach, und sie merkte deutlich genug,
daß Amanda wußte, wovon sie sprach. Und Amanda verstand, eine
Sache klar und geduldig begreiflich zu machen.
Als Amanda mit Händen und Füßen beschrieb, was sie meinte,
ertappte sich Irmgard dabei, daß sie ihre Lehrerin mit ungewollter
Bewunderung betrachtete.
Ich habe in dieser einen Stunde mehr gelernt als sonst in ein paar
Monaten! dachte Irmgard.
Aber das sagte sie nicht. Blumensträuße wollte sie auf keinen Fall
überreichen.
Auch Amanda machte Irmgard keine Komplimente, sie sagte nur:
„Genug für heute. Wie du selbst siehst, hast du an eine ganze Menge
zu denken. Zeige beim nächsten Mal, daß du schon etwas gelernt hast.
Und sei morgen früh pünktlich am Schwimmbecken. Ich habe nur
zehn Minuten Zeit für dich und will keine Sekunde verlieren!“ Irmgard war pünktlich. Auch Amanda kam auf die Minute. Sie
bereitete Irmgard zehn aufreibende Minuten und fand genauso viele
Fehler wie beim Tennis. Dolly, Martina und Marlies sahen
schweigend zu.
„Wenn Irmgard das aushält, dann wird es ihr sehr viel nützen“,
sagte Dolly. „Aber wie Amanda sie antreibt! Sie läßt ja keinen
Augenblick locker!“
„Aushalten kann Irmgard das schon. Die Frage ist nur: Hat sie den
Willen dazu?“ meinte Marlies. „Ich habe das Gefühl, sie wird es bald
satt bekommen… nicht den Unterricht, aber die Art, wie er gehalten
wird. Es ist ja auch eine Pferdekur.“
Das öffentliche Interesse an Amandas Unterricht erlahmte bald.
Irmgard biß sich durch, obwohl sie manchmal sehr schlecht gelaunt
war. Amanda lobte nie – das war das schlimmste. Ein dutzendmal
fand sie immer neue Fehler, aber wenn Irmgard mal einen wirklich guten Ball schlug, hieß es nur: „Nun, es ist erfreulich, endlich einmal
einen guten Ball zu sehen!“
Amanda selbst bewies allen, daß sie weit und breit die Beste war –
im Tennis und im Schwimmen. Selbstverständlich kam sie in die erste
Mannschaft. Es war eine Freude, ihr beim Sport zuzusehen. Dolly
wurde nicht müde, die Anmut dieses großen Mädchens auf dem
Tennisplatz und im Schwimmbecken zu bewundern.
Martina und Amanda hatten häufig Streit, besonders, wenn es sich
um den Unterricht für die jüngeren Mädchen handelte. Martina gab
sich da große Mühe, aber Amanda zeigte keinerlei Interesse. „Tessie sollte lernen, wie man bessere Bälle schlägt“, sagte sie
beispielsweise. Oder: „Lucy sollte das Schreien beim Schwimmen
lassen und lieber häufiger trainieren, dann würde sie gut werden.“ „Du redest immer nur, was sie besser machen sollen!“ sagte
Martina dann gereizt. „Du siehst alles, was falsch ist, aber du tust nie
etwas. Außer bei Irmgard!“
Amanda gab keine Antwort. Sie schien weit fort zu sein, und das
brachte Martina erst recht in Wut.
„So ist’s recht! In die Ferne schauen und an die schönen Tage bei
den Olympischen Spielen denken!“ höhnte sie dann und knallte die
Tür zu.
Martina wäre gern so gut gewesen wie Amanda.
Alice erinnerte sich, daß sie Irmgard nach dem Magneten fragen wollte. Irmgard grinste und zog ihn aus der Tasche.
Alice nahm ihn in die Hand. Er wog sehr schwer. Sie fuhr mit ihm auf dem Tisch entlang. Ein großer Bleistiftspitzer flog geradezu durch die Luft und heftete sich an den Magneten. Dann kamen ein Kompaß und ein paar Schreibfedern angeflogen.
„Wir haben Mademoiselle Rougier wieder hereingelegt“, sagte Irmgard. „Diesmal hat Hanna es übernommen. Wir haben es ein bißchen anders angefangen, aber es war genauso lustig.“
„Was ist passiert?“ fragte Alice.
„Die Haarnadeln kamen natürlich wieder heraus“, erzählte Irmgard und lachte über das ganze Gesicht. „Hanna streifte sie vom Magneten ab und ließ sie schnell an der Tür fallen, als sie wieder auf ihren Platz ging. Mademoiselle merkte, wie ihr Haar herunterfiel, fummelte wild mit der Hand herum und fand keine einzige Nadel. Sie sah ganz erschüttert aus. Dann meldete sich Felicitas und sagte, an der Tür lägen Nadeln, ob das vielleicht Mademoiselles seien. Mademoiselle konnte einfach
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