Dolly - 10 - Wiedersehen auf der Burg
können – vorausgesetzt, daß ihr es wollt. Ich halte es nicht für das Wichtigste, daß ihr Wissen erlangt und das Examen besteht, obwohl das natürlich gut ist. Aber unser Stolz sind die Schülerinnen, die gelernt haben, freundlich und hilfsbereit zu sein und liebenswerte Menschen zu werden. Menschen, auf die in jeder Beziehung Verlaß ist – so wie unsere Dolly Rieder hier, die ich euch als Vorbild von Herzen empfehlen möchte! Versager waren und sind für uns alle die, die diese menschlichen Qualitäten, die ich euch eben genannt habe, in all den Jahren auf Burg Möwenfels nicht gelernt haben. Ich weiß – die einen werden dies alles leicht lernen, die anderen werden Mühe haben. Aber – leicht oder schwer – ihr müßt es lernen, wenn ihr später glücklich werden und andere glücklich machen wollt. Man wird euch auf Burg Möwenfels viel geben. Seht zu, daß ihr viel zurückgebt!“
Die Mädchen schwiegen beeindruckt. Nachdenklich verließen sie das Zimmer der Direktorin. Vivi strahlte wie ein Christbaumengel. Nun hatte also auch sie die Direktorin sprechen hören, wie Susanne und Dolly es ihr so oft erzählt hatten. Vivi schwor sich, für Burg Möwenfels ein mindestens so großer Erfolg zu werden, wie es ihre Schwester Susanne und deren Freundin Dolly geworden waren – und auch Dollys Schwester Felicitas, die jetzt drüben im „Möwennest“ lernte und sich gewiß noch oft an Frau Greilings Worte erinnerte.
Am Nachmittag hatte Dolly eine Stunde frei und beschloß, auf einen Sprung zum „Möwennest“ hinüberzufahren. Auf dem alten Gutshof, der jetzt die Studien-und Wohnräume der Nestmöwen beherbergte, war es still. Dolly hielt vor dem Hauptgebäude, einem weißen Fachwerkbau mit tiefgezogenem Strohdach, und ging in die Halle, um am Schwarzen Brett nachzusehen, in welchem der Gebäude Felicitas untergebracht war. Da gab es den ehemaligen Kuhstall, den Hühnerstall, den Schafstall und das Mühlenhaus. Auch die alte Schmiede war zu einem Wohnhaus umgebaut worden.
Dolly studierte die Liste, auf der die Namen der Studentinnen und dahinter der Gebäudename und die Zimmernummer aufgeführt waren. Da! Felicitas Rieder – Schafstall – Zimmer 26. Feli wurde also zu den „Schäfchen“ gezählt, stellte Dolly schmunzelnd fest. Alle Bewohnerinnen der verschiedenen Ställe mußten es sich gefallen lassen, als „Schafe“, „Kühe“, „Hühner“ oder „Schweine“ bezeichnet zu werden, was manchen von ihnen gar nicht gefiel.
„He! Welcher Idiot stellt sich denn hier mitten vor die Ausfahrt!“ schimpfte draußen eine Stimme. „Daß diese Analphabeten noch nicht mal in der Lage sind, Parkverbotsschilder zu lesen!“
Dolly schrak zusammen und lief nach draußen. Schuldbewußt sprang sie in den Wagen und startete.
„Du lieber Himmel, das ist ja ,Richard’! ,Richard Löwenherz!’ Er lebt noch – nicht zu fassen!“ rief die Stimme hinter ihr, und gleich darauf tauchte eine ellenlange Gestalt neben ihr auf. „Fräulein Rieder! Dann nehme ich natürlich den Idioten zurück. Ich habe schon gehört, daß wir jetzt Kollegen geworden sind! Herzlich willkommen im guten alten ,Möwennest’!“
„KlausHenning Schwarze! Mein armer geplagter Lehrer in Literatur und Kunstgeschichte!“ Dolly stieg lachend aus dem Wagen. „Schön, Sie wiederzusehen. Und immer noch im ,Möwennest’.“
„Das Landleben bekommt mir so gut. Ich hätte schon zweimal eine Stellung in der Großstadt bekommen können, aber ich konnte mich einfach nicht trennen – da geht’s mir wie Ihnen, Dolly.“
„Sind Sie nun vom Möwenfels-Bazillus befallen worden – oder vielleicht doch nur von den Möwen selbst?“ neckte Dolly den jungen Lehrer.
„Ich weiß nicht – vielleicht habe ich hier auch nur auf die treueste aller Möwen gewartet, in der Gewißheit, daß sie eines Tages heimfinden würde?“
Dolly wurde rot.
„Ich muß ,Richard’ auf den Parkplatz fahren, sonst gibt es noch Ärger. Und dann will ich schnell meine Schwester besuchen – sie wohnt im Schafstall.“
„Ich weiß. Ich habe sie heute morgen schon gesehen. Sie kommen doch zum Eröffnungsfest des neuen Semesters am Wochenende? Unsere jungen Küchenfeen versprechen uns wieder große lukullische Genüsse!“
„Gern – wenn Pöttchen mich fortläßt, das heißt, wenn ich keinen Dienst habe.“
„Also dann – bis Samstag! Ich freue mich schon drauf!“ KlausHenning Schwarze schüttelte ihr die Hand und hielt ihr die Wagentür auf. Dolly schaute ihm durch den
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