Domfeuer
kurz die Luft weg. Das hatte ihm noch gefehlt – ein Goldgräber! Wie immer nach Sonnenuntergang waren die Kloakenreiniger mit ihren Ladungen unterwegs zum Rhein. In dem riesigen Bottich auf dem Karren schwappte die stinkende Brühe bedrohlich hin und her.
»Bist du von Sinnen, Kerl?«, schrie der Mann. Nur mit Mühe gelang es ihm, den schaukelnden Karren wieder ins Gleichgewicht zu bringen und zugleich seine Laterne nicht fallen zu lassen.
Paulus rieb seine Rippen, die nach dem Zusammenprall so sehr schmerzten. Ein Wort der Entschuldigung brachte er nicht über die Lippen. Er zog den Umhang enger, damit der Goldgräber sein blutiges Hemd nicht sah.
»Trottel! Was hast du’s denn so eilig? Hast du einen abgemurkst?«
Paulus zuckte zusammen. Der Goldgräber hatte recht. Wenn Paulus durch die Straßen flog, als sei der Leibhaftige hinter ihm her, musste doch jeder denken, dass er etwas ausgefressen hatte. Beschwichtigend hob er die Hand und ging langsam weiter, begleitet von den Verwünschungen des Goldgräbers. Wie ein getretener Hund schlich Paulus zum nächstbesten Haus und lehnte sich gegen die Lehmwand. Der Goldgräber stand noch immer an seinem Karren und sah misstrauisch zu ihm herüber.
Verschwinde, dachte Paulus. Was er jetzt nicht gebrauchen konnte, war ein Spatzenhirn, das sich genau die richtigen Fragen stellte. Durchatmen, die wild springenden Gedanken ordnen.
Niemand würde ihm die Geschichte von dem großen, bösen Unhold glauben, der ihn hereingelegt und Mummersloch abgestochen hatte, nicht einmal die Magd, die Nox die Tür geöffnet hatte. Sie konnte nur bezeugen, dass im Hof ein Unbekannter gewartet und einen Boten vorausgeschickt hatte, um ihren Herrn zu holen. Nox hatte alles perfekt eingefädelt. In aller Seelenruhe konnte dieser Teufel nun meucheln, und jedermann hielt Paulus für den Mörder. Den Mörder von drei reichen Tuchhändlern, hoch angesehenen Bürgern. Ganz Köln würde ihn jagen.
Also musste er raus aus der Stadt. Doch die Tore waren verriegelt. Heute Nacht war er Gefangener und Flüchtling zugleich. Er musste einen Unterschlupf finden, nur für ein paar Stunden. Vielleicht gelang es ihm am Morgen, die Stadt durch eines der großen Tore zu verlassen. Doch wohin konnte er bis dahin?
Zu seinem Schlafplatz in der Lagerhalle am Kai? Nein, denn wenn Angela ihn verriet, würden die Häscher dort zuerst nach ihm suchen. Sie wusste, wo er schlief.
Zu Barthel und seiner Frau? Auch nicht. Nox hatte es auf Hartmann Gir abgesehen, und wahrscheinlich war Barthels Vater in diesem Augenblick schon tot. Ganz sicher würden die Büttel irgendwann bei Barthel aufkreuzen und ihn befragen.
Zu Matthias in den Mauerbogen? Bloß nicht. Was Paulus jetzt nicht an seiner Seite gebrauchen konnte, war ein volltrunkener und grölender Bettler, der alle Aufmerksamkeit auf sie zog wie eben im Hafen.
Zu Angela? Keinesfalls. Er konnte nicht an den Ort des ersten Mordes zurückkehren. Was, wenn Angela schlicht losschrie? Da konnte er genauso gut sofort zum Gericht im Domhof gehen und sich selbst anzeigen.
Ihm blieb nur ein Mensch, dem er vertrauen konnte – seine Mutter. Hoffentlich.
Vom Judenviertel her drang das Gebell aufgeregter Hunde. Zeit, zu verschwinden. Paulus lenkte seine Schritte die Budengasse hinauf, weg vom Rhein, weg von den Häusern der Reichen, hin zu den ärmeren Winkeln der Stadt.
Er spürte, wie seine Wangen spannten. Mummerslochs Blut war auf seiner Haut im Gesicht geronnen. Er musste sich waschen, denn so konnte er auf keinen Fall um Obdach bitten. Ein Brunnen half ihm nicht viel, weil er ohne Bottich nicht ans Wasser herankam.
Paulus kreuzte den Steinweg, jene alte römische Straße, die als einzige in der Stadt gepflastert war, und kam wenig später an einer Baustelle vorbei. Seit einigen Monaten wuchsen hier ein Kloster und eine lang gestreckte Kirche empor. Die Minderen Brüder verbreiteten sich von Italien aus in der Welt und machten um Köln keinen Umweg. Paulus war es nur recht. Irgendwo auf der Baustelle des Bettelordens gab es bestimmt Wasser. Mit ein wenig Glück war sie nicht bewacht. Warum auch? Minderbrüder bestahl man nicht, und den lieben Gott schon gar nicht.
Paulus nahm Anlauf und schwang sich auf die Krone der Mauer, die das Gelände umgab. Mit Sorge sah er hinab. Alles war schwarz. Dank des Lichterscheins aus einigen wenigen Häusern hatte er auf der Straße gerade genug sehen können, um einen Fuß sicher vor den anderen zu setzen. Doch auf der ummauerten
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