Domfeuer
dem du dich aufs Werthchen gestohlen hast, um dort wer weiß was zu treiben. Verstehe mich bitte nicht falsch. Ich bin dir zu Dank verpflichtet. Aber ich darf kein Wagnis eingehen. Niemand kann mir eine Gewähr geben, dass du nicht in der Nacht verschwindest, um mich ans Messer zu liefern und deine Haut zu retten. Verstehst du das?«
Sie nickte. Sie verstand. Paulus’ schlechtes Gewissen wuchs.
»Versprichst du mir, nicht zu schreien, wenn ich dir den Knebel abnehme?«
Wieder nickte sie. Als Paulus das Tuch aus ihrem Mund zog, holte Jenne tief Luft und versuchte dann, Fussel auszuspucken. Sie schrie nicht, aber der Blick, den sie ihm in der Dunkelheit zuwarf, dürfte die Schärfe eines Messers gehabt haben. »Aber wenn du mir die Fesseln abnimmst, kratze ich dir die Augen aus.«
»Damit werde ich leben müssen«, sagte Paulus, nun schon mit deutlich leichterem Herzen. »Vielleicht belässt du es ja bei einem Auge, damit wir beide künftig die gleichen Voraussetzungen haben.«
»Sehr witzig, wirklich.«
Paulus legte sich neben sie. »Mir steht nicht der Sinn danach, besonders witzig zu sein.«
Jenne versuchte, sich trotz der Fesseln halbwegs bequem auszustrecken. »Du wolltest mir noch verraten, was dich so liebreizend macht, dass dich eine Hundemeute hetzt.«
Er nickte. »Ich wurde in eine Falle gelockt. Jemand hat in dieser Nacht drei Tuchhändler vor ihren letzten Richter geschickt und es so aussehen lassen, als sei ich ihr Henker gewesen. Und dabei war er sehr geschickt.«
»Du weißt, wer es war?«
»Ein Mann, der sich Nox nennt und mit der Zunge eines Niederländers spricht.«
»Dann geh doch zum Hochgericht.«
Paulus brummte. »Du bist nicht nur frech, sondern auch einfältig.«
»Dann mach doch, was du willst«, sagte sie und schloss die Augen.
Paulus tat es ihr nach. Er war hundemüde und versuchte zu schlafen, aber er brauchte lange, um zur Ruhe zu kommen, auch wenn er sich nun halbwegs sicher fühlte. Sehr lange. Paulus lauschte. Kein Hundegebell. Keine Jäger. Nur das eintönige, machtvolle Rauschen des Wassers im Mühlrad war zu hören. Es war ein beruhigendes Geräusch, und das war gut. Es würde ihn schon noch in den Schlaf bringen, irgendwann. Paulus hob ein Lid und sah Jenne an. Sie schien bereits eingenickt zu sein. Ihr Atem ging schwer und regelmäßig. Kein Wunder, dass sie schon schlief, auf ihren Schultern lastete kein solches Gewicht wie auf seinen.
Die Mehlsäcke waren ein wenig von ihr heruntergerutscht. Weil es zwar noch immer schwül war, so weit draußen auf dem Rhein aber doch oft ein frischer Wind wehte, streckte Paulus den Arm aus, um Jenne wieder zuzudecken.
»Denk nicht mal dran.«
Paulus zuckte zurück. Sie hatte ihn schon wieder überrascht. »An was?«
»Das weißt du genau.«
»Ich wollte dich nur zudecken.«
»Erzähl das deiner Mutter. Ich kenne euch Kerle. Lass bloß die Finger von mir. Wenn du noch mal versuchst, mich anzufassen, werde ich doch schreien.«
»Wenn du schreist, werfe ich dich ins Wasser. Mitsamt der Fesseln.«
»Ich kann nicht schwimmen.«
»Umso besser.« Paulus schüttelte den Kopf und drehte sich auf die andere Seite. Es war heute sicher nicht sein schlechtester Einfall gewesen, die Kleine zu fesseln. Was für ein unberechenbares Biest.
Und was für ein Tag.
Er sah den Rhein hinab, dorthin, wo das Kriegsschiff liegen musste. Dorthin, wo das Unheil seinen Anfang genommen hatte. Vor ein paar Stunden noch hatte er an das Gute in den Menschen geglaubt, hatte er noch gehofft, den Riss in seiner Familie flicken zu können. Doch seine zerstrittenen Brüder waren nun sein kleinstes Problem. Sein Leben war ein einziger Scherbenhaufen. Hätte er doch nur diesen verfluchten Auftrag nicht angenommen. Hätte er doch nur auf Kassandra gehört.
Bilder flogen in Fetzen durch Paulus’ Kopf. Der im Todeskampf zappelnde Mummersloch. Die weinende Witwe. Der hämisch winkende Nox. Seine sprachlose Angela. Seine halb nackte Mutter. Die Hunde. Die blutige Leber im Zelt der Wahrsagerin. Die blitzende Silbermünze.
Und durch die Bilder wirbelten Wörter. Saulus, Paulus, drei Söhne, Mummersloch, Mauerloch, mein Herr Bazobo …
Paulus schüttelte sich, als könnte er so die Erinnerungen abwerfen. Was tun?
In ein paar Stunden könnte er sich in die Esche setzen und sich einfach den Rhein hinabtreiben lassen, am besten gleich bei Sonnenaufgang. Im nächsten oder übernächsten Hafen schon, wo ihn niemand kannte, könnte er sein Leben von vorn beginnen.
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