Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Don Juan de la Mancha

Don Juan de la Mancha

Titel: Don Juan de la Mancha Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
Vom Netzwerk:
Du weißt schon, und ich lief zum Zigarettenautomaten, drückte ein Päckchen »Smart«, dann zum Grafen, um ein Exemplar aus der »Gemischten Liebe« umzutauschen. »Markenliebe« sei nicht notwendig, meinte sie.
    Herr Graf hatte eine belegte Stimme. Das passte. Der Moder seines Geschäfts lag nicht nur auf seiner Gesichtshaut, sondern auch auf seinen Stimmbändern.
    Einmal umtauschen, sagte ich und legte das gelesene Heft, das Mutter mir mitgegeben hatte, auf den Tresen. Herr Graf warf einen Blick auf das Heft, sagte »Gemischte Liebe wie immer« und legte mir einen Stapel von Heften hin, aus denen ich eines aussuchen durfte. Ich nahm immer Titel, die mir in Hinblick auf meine Mutter sinnig erschienen, zum Beispiel »Mein Kind soll glücklich sein«, »Ruhiges Zimmer mit eigenem Prinzen« oder »Unordnung und spätes Glück«.
    Erstaunlich, was du liest, sagte der Graf.
    Das ist für meine Mutter, sagte ich, mit ebenso belegter Stimme.
    Für deine Mutter, sagte er, erstaunlich! Normalerweise kommt zuerst der Traum von der Liebe und dann erst das Kind.
    Ja, das stimmt, sagte ich. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
    Fünfzig Groschen, sagte er. Hat dein Vater euch verlassen?
    Was ging ihn das an? Ja, sagte ich.
    Mutter saß im Schaukelstuhl, rauchte ihre »Smart« und las, und ich saß am Esstisch und las. Die dicken Schafwollsocken, die meine Mutter anstelle von Hausschuhen verwendete. Ein Wollsockenfuß auf einer Kufe des Schaukelstuhls, der andere, mit dem sich Mutter zum Schaukeln abstieß, auf dem Fußboden, das leise rhythmische Knarren.
    Vielleicht könnte ich mich heute gar nicht mehr daran erinnern, wenn es nicht diesen Abend gegeben hätte: Mutter las »Gemischte Liebe«, ich war Mitglied des Buchklubs der Jugend und las etwas Empfohlenes, Karl Bruckners Roman »Viva Mexiko«, ein sozialdemokratisches Jugendbuch über die mexikanische Revolution. Plötzlich begann ich zu weinen, wegen des heldenhaften Kampfes Zapatas um Freiheit, Solidarität, im Grunde um Liebe. Unmerklich zunächst, meine Augen wurden nass. Dann schluchzte ich auf. Und als ich merkte, dass meine Mutter es bemerkt hatte, wurde mein Weinen und Schluchzen immer haltloser, je mehr ich es zu unterdrücken versuchte. Meine Mutter legte ihr Heft weg, und ich sah, dass auch sie weinte. Sie kam zu mir, ich stand auf, sie umarmte mich. Weinst du wegen dem Buch, das du gerade liest?, fragte sie.
    Ja.
    Ich auch, sagte sie und schluchzte auf.
    Sie drückte und küsste mich. Wir sind so dumm, sagte sie und lachte. Ja, ganz dumm, und wir weinten und lachten, weil wir weinten.
    Es war der Freitag nach einer intensiven Werbe-Woche, als Christa meine SMS-Anfrage, ob sie wieder Lust hätte, mich zu sehen, mit der SMS beantwortete: »Da bin ich im Moment überfragt.«
    Am Montag dann aber die Nachricht: »Ich glaube, ich liebe dich doch. 17 Uhr Spinne? Habe Zeit bis 18.30.«
    Endlich wieder normale Verhältnisse. Ich habe solche Sehnsucht nach Normalität.
    26.
    Nur vier Mal? Nein. Ich habe viel öfter an Tante Lia geschrieben, sehr viel öfter, und jedes Mal empfand ich es als Strafe. Es war die Strafe dafür, Liebesbeweise als Zumutung zu empfinden. Tante Lia saß in der brütenden Hitze von Tel Aviv, dachte daran, wie kalt es nun in Wien sei, hatte plötzlich die Vorstellung, dass der kleine Nathan in Wien womöglich unerträglich frieren musste, und beschloss, einen Pullover zu stricken.
    Dann kam das Paket. Ein Paket für dich, Nathan, von Tante Lia aus Tel Aviv, sagte Mutter gespielt fröhlich. Das Paket enthielt einen kanarienvogelgelben Pullover aus drahtiger Azetat-Kunstwolle. Vater, Lias liebender Bruder, nickte anerkennend. Man findet leichter ein Kaffeehaus in der Sahara als ein Wollgeschäft in Tel Aviv, sagte er. Du musst Tante Lia gleich schreiben und dich bedanken.
    Ja, du musst dich bedanken. Wie lieb Tante Lia an dich denkt, sagte Mutter.
    Es gab keine Diskussion darüber, ob ich diesen kratzenden Pullover je anziehen musste. Nur ein einziges Mal: für das Foto, das meinem Dankbrief beigelegt wurde. Der Pullover lud sich beim bloßen Überziehen elektrisch so stark auf, dass meine Haare zu Berge standen. Das Foto von mir mit den abstehenden Haaren habe ich heute noch und die Erinnerung an zahllose andere Fotos für Lia.
    Ich hasste es, diese Dankbriefe zu schreiben. Ich will nicht, ich will nicht. Ich musste. Tante Lia liebt dich! Warum vergisst sie mich nicht, schrie ich, ich vergesse sie ja auch jedes Mal, bis wieder so ein blödes

Weitere Kostenlose Bücher