Don Juan de la Mancha
kleinen Kindes gewesen sei, einen Mann zu finden, der eine Frau mit Kind »nehme«. Wie sehr ihr Sohn, den sie so lange als Last empfunden habe, ihr nun fehlte, nachdem er von zu Hause ausgezogen sei und kaum einmal anrufe. Dann erzählte sie – ich weiß nicht mehr, was. Wir aßen, ich sah sie an, nickte, schüttelte den Kopf, dachte an anderes. Mir fielen die »Doppelpunkt-Aktionen« ein, die von einer Wiener Künstlergruppe um Joe Berger, Wolfgang Bauer und Reinhard Priessnitz Ende der sechziger Jahre in Wien durchgeführt worden waren. Ich habe sie selbst nicht erlebt, bin damals noch ein Kind gewesen, aber es gab noch in meiner Studentenzeit viele Menschen, die so lebhaft von diesen Aktionen erzählten, dass ich mich heute problemlos als »Zeitzeuge« ausgeben könnte. Die »Doppelpunkt-Aktionen« waren öffentliche Auseinandersetzungen mit einem bestimmten Begriff anhand eines Beispiels. Zwischen Begriff und Beispiel stand im Titel der Aktion ein Doppelpunkt, daher der Name »Doppelpunkt-Aktion«. Legendär wurde die Aktion »Hunger: Biafra«. Sie fand in einem gutbürgerlichen Restaurant statt. Am Kopfende des Speisesaals war auf einem Podest eine lange Tafel aufgestellt, an der die Künstler saßen. Sie diskutierten über Hunger und Imperialismus, Weltenläufte und soziale Ungerechtigkeit, während sie die Speisekarte rauf und runter bestellten und den Weinkeller des Restaurants leertranken. Zu Beginn der Aktion gab es noch Lacher im Publikum, Nachdenklichkeit, kunsttheoretisch unterfütterte Kennerschaft. Joe Berger fragte: Worüber reden wir heute? Wolfgang Bauer sagte: Über den Hunger! Darauf Joe Berger: Ich hab keinen großen Hunger, was soll ich bestellen? Reinhard Priessnitz: Vielleicht ein Schinkenbrot mit Kren. Berger: Gute Idee, und dann einen Schweinsbraten mit Kraut und Knödel.
So ging das immer weiter, das Publikum hielt für einstudiert, was spontan den berauschten Hirnen der Dichter entsprang, während sie exzessiv aßen und tranken. Am Ende, nach unzähligen Flaschen Wein, lallten die Aktionisten nur noch, die Mehrheit des Publikums schöpfte Verdacht, einige hielten das immer noch für eine perfekte Inszenierung, allen gemeinsam war aber der Glaube an den »guten Zweck«: Der Erlös dieses Abends sollte an die Hungernden in Biafra überwiesen werden. Am Ende verlangte Joe Berger die Rechnung. Er bezahlte das Essen und Trinken der Künstler aus der Schuhschachtel, in die das Publikum vor der Veranstaltung ihre Spenden für die Hungernden hineingeworfen hatte, und verkündete: Nach Abzug der Spesen bleiben fünf Schilling. Der Reinerlös wird morgen nach Biafra überwiesen.
Nach einer Sekunde, in der die Zeit festgenagelt schien, sprangen einige gute Bürger, brave Christen, gebildete Herren und belesene Damen auf und gingen wütend mit ihren Stühlen auf die Künstler los. Sie zertrümmerten das Restaurant, die Künstler flüchteten. Die Fotografin Heidi Heide machte Fotos, sie sind das Kunstwerk, das blieb.
Und Traude redete von ihren Sehnsüchten, den Beengtheiten ihres Lebens und ihrem Liebeshunger, redete und redete.
Es kam das Dessert. Millefeuille von Bouchon de Chèvre mit Traubensenfsorbet, marinierten Trauben und Basilikumöl, sagte der Kellner, als er servierte. Ich wusste schon während des Essens nicht mehr, wie das hieß, was ich aß. Jetzt, beim Schreiben, bin ich auf die Homepage vom »Latour« gegangen.
Ich wollte kotzen. Traude war, was ich gern gewesen wäre: angeregt betrunken, glücklich sentimental. Das versprach Zärtlichkeit, und das Versprechen wurde gehalten.
Traudes Wohnung. Mit Mühe konnte ich die Tränen zurückhalten, als ich das begriff: Sie schlief normalerweise im ehemaligen »Kinderzimmer«, seit ihr Sohn ausgezogen war. In seinem Bett. Einem Einzelbett. Wenn sie Männerbesuch hatte, klappte sie im Wohnzimmer ein Sofa zu einem Doppelbett auf, über das sie ein Leintuch spannte. Mit schnellen, routiniert pragmatischen Handgriffen. Ich spürte, wie sie selbst spürte, um wie viel angenehmer es wäre, wenn das nicht getan werden müsste und wir einfach so in ein Bett fallen könnten. Kein Zweifel, sie schämte sich eines Einkommens, das ihr nicht mehr Lebensraum ermöglicht hatte, als diese Zweizimmerwohnung. Diese Einrichtung. Dieser riesige Einbaukleiderschrank, der das Vorzimmer zu einem schmalen Durchschlupf machte. Das war der Durchschlupf einer Existenz, die gezwungen war, jeden Tag tipptopp gekleidet bei der Arbeit zu erscheinen, aber nie zwei Tage
Weitere Kostenlose Bücher