Don Juan de la Mancha
hintereinander dasselbe anhaben durfte. Sie schämte sich der Existenz, die sie jahrelang vor meinen Augen erwirtschaftet hatte.
Wir zogen uns aus und gingen ins Bett. Traude stand rasch noch einmal auf und legte eine CD ein. Dann schlüpfte sie zurück ins Bett, schmiegte sich an mich, küsste mich. Da hörte ich »When The Tigers Broke Free« von Pink Floyd. Ich begann zu weinen. Das war so typisch für Traude: diese pathetische Musik, dieser Titel.
Wie einfühlsam Traude war: Sie glaubte, dass ich weinte, weil ich entlassen worden sei, und tröstete mich. Und war untröstlich, weil sie zu verstehen glaubte, was es bedeute, in unserem Alter entlassen zu werden. Sie hatte keine Ahnung, welche Abfertigung mir zustand. Ihre Tränen und meine waren Tropfen aus verschiedenen Meeren.
53.
Zeitig in der Früh läutete mein Handy. Ich wollte es ignorieren, aber es klingelte und klingelte. Ich dachte sofort: Vater! Jetzt hat er erfahren, dass ich entlassen worden bin, »seinen« Job verloren habe. Ich drehte mich um, schlug ein Bein um Traude, das Handy hörte auf zu läuten. Fünf Minuten später begann es erneut. Ja, Vater. Ist ja gut, Vater. Ich dachte, dass es vernünftiger wäre, jetzt abzuheben, ich würde um das Gespräch mit ihm und seine Vorwürfe ohnehin nicht herumkommen.
Und wirklich: auf dem Display des Handys stand »Vater«. Ich nahm das Gespräch an und sagte: Hallo Papa!
Nein, ich bin’s!, sagte Martha, die Frau meines Vaters.
Traude drehte sich um, schmiegte sich ganz fest an mich. Ihre Augen waren verklebt.
Martha sagte einen Satz. Ich befreite mich aus Traudes Umklammerung und sagte: Ich hab dich nicht verstanden.
Martha wiederholte den Satz.
54.
Der schlimmste Stress ist Begräbnisstress. Es ist so wenig Zeit zwischen dem Tod eines Menschen und dem Begräbnis, aber es gibt so viel zu organisieren. Man muss Prioritäten setzen. Was muss sofort erledigt werden, was kann man aufschieben. Aufschieben kann man nur das Trauern, das Eingedenken.
Ab einem bestimmten Alter begann ich an den Tod zu denken. Aber noch waren die Eltern da. So alt können Eltern gar nicht sein, dass sie einen nicht noch immer beschützen. Bloß dadurch, dass sie leben. Ihr Leben sagt: Du bist noch nicht dran!
Manchmal dachte ich daran, wie es sein wird, wenn die Eltern »nicht mehr sind«. Aber die Eltern lebten, und der Gedanke starb.
Ich habe den Gedanken an den Tod, den Tod der Eltern, nicht verdrängt, ich habe ihn lediglich nicht gepflegt. Sie waren da, bisweilen lästig, nervend, rührselig, starrsinnig, distanzlos, tyrannisch, unverbesserlich, sehnsüchtig nach einem Telefonanruf des Sohnes, eine aus vielen Bausteinen zusammengesetzte Mauer zwischen mir und dem Tod. So kann man nicht, so muss man nicht an den Tod denken, differenziert und realistisch. Ich habe nie versucht, mir Vaters Tod und Mutters Tod als verschiedene, als getrennte Tode vorzustellen. Vater und Mutter waren im Leben getrennt, fast mein ganzes Leben lang, aber wenn ich an den Tod dachte, da waren sie zusammen die Mauer zwischen mir und dem Tod. Ich dachte: »Solange die Eltern noch sind …«, oder »Wie es wohl sein wird, wenn die Eltern nicht mehr sind …«, ich hatte Eltern nur, wenn ich an den Tod dachte, im Leben hatte ich getrennt Vater und Mutter.
Ich fuhr nach Marthas Anruf sofort in das Krankenhaus »Zu den barmherzigen Schwestern«, von Vater stets »Die herzigen Schwestern« genannt. Dort hatte er einen Primararzt gekannt, Doktor Hubertus Huber-Canossa, der in der Glanzzeit meines Vaters ein Modearzt war, ein, wie man heute sagen würde: Anti-Aging-Spezialist, für alternde Prominente, der aber nach der Pensionierung meines Vaters aus der Mode gekommen und selbst alt geworden war. Vater hatte ihm vertraut. Jahrelang hatte er sich regelmäßig für einige Tage zu ihm begeben (»Ich leg mich zu den herzigen Schwestern!«), um sich vorsorglich durchchecken zu lassen. Sein Vertrauen in Doktor Huber-Canossa beruhte wesentlich darauf, dass dieser, nach einer »Prüfung auf Herz und Nieren«, nie eine andere Diagnose für Vaters Wehwehchen hatte als »das Alter«, oder, wie er es formulierte: »Wir werden eben nicht jünger!«
Erst vor einem halben Jahr hatte sich Vater wieder einmal, das letzte Mal, zu den herzigen Schwestern gelegt, um sich vom alten Doktor Huber-Canossa eine Woche lang untersuchen zu lassen.
Danach hatte ich ihn im Café Landtmann, neben dem Burgtheater, getroffen, ein Café, in dem viele Prominente verkehren,
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