Don Juan de la Mancha

die Geschichte Ihrer ersten Ehe neu bewerten?
    Ich will die Geschichte nicht neu bewerten. Ich will über die Geschichte nichts anderes sagen können, als: Es ist Geschichte.
    Ich kaute am Daumennagel. Plötzlich begann auch Frau Doktor Hannah Singer an ihrem Daumennagel zu beißen. War das ein therapeutischer Trick? Wollte sie mir etwas deutlich machen, indem sie mich imitierte? Ich fand das kindisch. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und wartete darauf, ob sie nun ebenfalls die Arme vor der Brust verschränken würde. Das tat sie nicht. Sie kaute weiter an ihrem Nagel. Und, sagte sie, machte eine Pause, biss ein Stück Haut vom Nagelbett ab, dann: Alice? Haben Sie von ihr wieder gehört seit Ihrer Rückkehr von Paris? Wie ist der letzte Stand?
    Ich erzählte, dass ich ein paar SMS von ihr bekommen, sie aber nicht beantwortet und gleich gelöscht habe. Warum? Geschichte, sagte ich. Weil es Geschichte ist. Ich will, sagte ich, nicht in die falsche Richtung leben.
    58.
    Ich fuhr wieder aufs Land, in mein Haus, begann ein kreiselndes Leben: Schlafzimmer Küche Klo Terrasse Wohnzimmer Klo Küche Terrasse Schlafzimmer Wohnzimmer Terrasse Klo Terrasse Wohnzimmer Schlafzimmer Küche. Der Rasen meines Gartens verdorrte. In den Zeitungen und Fernsehnachrichten sprach man von einem Jahrhundertsommer. Ich hatte schon viele Jahrhunderte in Form von Jahrhundertsommern und Jahrhundertfrösten, Jahrhundertstürmen, Jahrhundertgewittern und Jahrhundertüberschwemmungen erlebt, und genauso fühlte ich mich, eine jahrhundertalte Schildkröte, ebenso behindert wie geschützt von einem schweren Panzer.
    Die Zeitung, für die ich gearbeitet hatte, führte den angekündigten Relaunch durch. Das Layout wurde jugendlicher, und das Leben war tot. Es hieß jetzt LifeStyle.
    Ich schlief viel in dieser Zeit.
    Die Therapie setzte ich für einige Wochen aus. Ich hatte keine Lust, wegen eines einstündigen Gesprächs nach Wien zu fahren. Ich trank. Ich genoss meine Schwermut und bei höherem Alkoholpegel meine Rührseligkeit. Ich hielt dies für Zeichen meiner Sensibilität und existenziellen Tiefe. Manchmal ist es leichter, ein bisschen glücklich zu sein, wenn man unglücklich ist, als vorbehaltlos glücklich zu sein, wenn man einigermaßen glücklich ist.
    An den Wochenenden kam meine Frau. An diesen Tagen lebte ich gesund. Regelmäßige Mahlzeiten, Alkohol erst am Abend und nur zum Essen, lange Spaziergänge. Wir gingen schwimmen in die »Lagune«, so hieß ein ehemaliger Schotterteich in der Nähe, den die Gemeinde zu einem Freibad mit Freizeitanlagen adaptiert hatte. Früher, als wir dieses Haus gerade gekauft hatten, bin ich gern und oft schwimmen gegangen. Jetzt merkte ich: Schwermut macht wasserscheu. Aber ich folgte meiner Frau, ging mit ihr in den Teich und ließ mich fallen.
    Eines Nachmittags sagte sie, dass sie mehr Sex wolle.
    Ich fuhr sofort einkaufen.
    Dann kochte ich. Stundenlang. Liebevoll. Mehrere Gänge.
    Wir aßen und tranken und redeten ausgiebig.
    Als ich in der Früh aufwachte, fand ich mich allein im Bett. Meine Frau war ins Gästezimmer übersiedelt. Es sei unerträglich gewesen, sagte sie, wie laut ich geschnarcht hätte.
    59.
    Angeblich sieht man im Moment des Sterbens sein Leben wie einen Film vor dem inneren Auge ablaufen. Ich hatte dieses Erlebnis, als ich im Fruchtwasser lag.
    Ich hatte das Glück in einem Reformhaus entdeckt. Es heißt »Bellamnion« und sieht aus wie rötlichbraunes Salz. Zwei Löffel davon in die Wanne bewirken, dass das Badewasser dieselbe chemische Zusammensetzung wie Fruchtwasser hat. Es enthält Elektrolyte, Glucose, Lipide, Proteine und Eiweiß in genau der Menge und dem Verhältnis wie die Flüssigkeit, in der wir neun Monate lang geschwommen sind. Man kann stundenlang in diesem Bad liegen, ohne dass die Finger oder Füße verschrumpeln und runzelig werden. Embryos haben ja bekanntlich auch keine aufgedunsene Haut wie Wasserleichen. Ich lag in der Badewanne und war glücklich. Die Haut straff und weich, der Körper schwerelos und ohne Bedürfnisse, ab und zu ein Schluck, man kann das Fruchtwasser trinken. Ideal sind 36,5 Grad. Kühlt das Wasser ab, lässt man heißes nachrinnen. Wenn man das zwei- oder dreimal gemacht hat, kann man einen kleinen Löffel Bellamnion ergänzen.
    Es ist Leben befreit vom Lebenskampf, es ist Glück in einer Hülle, Bellamnion ist die am höchsten Stand der Produktivkräfte entwickelte Möglichkeit, nicht produktiv zu sein, sondern nur zu sein. Das Leben