Donner unter der Kimm
Keen schaute ihn an und nickte knapp. Ihr Blick überspannte viele Jahre.
Aus der Ferne hörte Bolitho es viermal glasen. Punkt zehn Uhr, und nun erschien Herrick.
Bolitho stand mit den anderen auf, als die Ausschußmitglieder zu ihren Plätzen gingen. Herrick in der Mitte wirkte ernst und beherrscht. Es dauerte eine Weile, bis Sir Marcus Laforey, dem sein Diener einen Gichthocker unter dem verbundenen Fuß zurechtrückte, es sich am Ende des Tisches bequem gemacht hatte. Weiter zum Ausschuß gehörten Mr. Pullen von der Admiralität, der noch immer Schwarz trug und streng dreinblickte, zwei Kapitäne, die Bolitho nicht kannte, und schließlich Sir Hedworth Jerram, Laforeys Flaggkapitän. Er war groß und mager und hatte eine lange Nase, die zu seinem hochmütigen Benehmen paßte. Als er sich nun erhob, rümpfte er sie, als habe er gerade etwas Anstößiges erblickt.
Herrick erklärte knapp: »Die Sitzung des Untersuchungsausschusses der Admiralität ist hiermit eröffnet. Wer schriftlich vom Gegenstand der Ermittlungen in Kenntnis gesetzt wurde, wird hier Fragen zu beantworten haben. Es werden zwar auch schriftliche Aussagen verwandt, doch der Ausschuß ist vorwiegend zusammengetreten, um persönlich das Verhalten von Kapitän Valentine Keen von Seiner Britannischen Majestät Linienschiff
Argonaute
zu den erwähnten Zeiten zu klären.«
Nun schaute er zum ersten Mal Keen an. »Bitte nehmen Sie Platz. Sie stehen hier nicht vor Gericht.«
Bolitho schaute zu Kapitän Jerram hinüber. Dessen Miene sagte eindeutig:
noch nicht.
Jerram wandte sich den Zuschauern zu, einige Akten lose in den knochigen Fingern. Übertrieben laut beschrieb er das Auslaufen des Geschwaders von Spithead und sein späteres Zusammentreffen mit dem Sträflingsschiff
Orontes.
»Angeblich wurde mehrmals der Versuch unternommen, dieses Schiff, das nicht steuerfähig war, in Schlepp zu nehmen. Aus unerfindlichen Gründen beschloß man schließlich auf dem Flaggschiff des Geschwaders, das beschädigte Schiff zu kontrollieren, obwohl die
Helicon« –
er schaute schnell in sein Konzept – »unter Kapitän Inch bereits erfolgreich Hilfe geleistet hatte.«
»Der Grund dafür war…« begann Keen.
Herrick klopfte auf den Tisch. »Später, Kapitän Keen.« Bolitho musterte Herrick. Er fühlte sich in seiner Rolle unwohl, aber sein Tonfall verriet das nicht.
»Kurz darauf begab sich Kapitän Keen persönlich auf die
Orontes.«
Jerram sah Keen scharf an, als erwartete er Widerspruch. »Und nun wird das Verhalten des Kapitäns zum Gegenstand dieses Verfahrens, wenn nicht später sogar ein Fall fürs Kriegsgericht.«
In der Kajüte hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Selbst das Schiff war ungewöhnlich still; man vernahm nur das Ächzen der Balken und das Lecken des Wassers unterm Heck.
Der Ehrenwerte Sir Hedworth Jerram erklärte auf seine präzise Art: »Denn der – Kapitän Keen entfernte eine Frau, die nach New South Wales in die Verbannung gebracht werden sollte, von diesem Schiff.«
Bolitho ballte die Fäuste. Fast hätte Jerram Keen als »den Angeklagten« bezeichnet.
»Der Schiffsarzt der
Argonaute
ist anwesend. Bitte erheben Sie sich.«
Tuson, dessen weißes Haar im starken Kontrast zu seinem einfarbig blauen Rock stand, überragte alle anderen.
»Wurde die fragliche Frau bestraft?« fragte Jerram.
Tuson musterte ihn düster. »Jawohl, Sir, sie wurde geschlagen. Ausgepeitscht, Sir.«
»Bestraft«,
schnappte Jerram. »Wie schwer waren ihre Verletzungen?«
Tuson beschrieb in seinem üblichen gelassenen Tonfall die Wunde auf dem Rücken des Mädchens. Wer in ihm einen durchschnittlichen Schiffsdoktor erwartet hatte, würde bald eines besseren belehrt werden.
»In Lebensgefahr schwebte sie aber nicht?« beharrte Jerram.
Tuson starrte ihn an. »Wenn man sie auf dieses Schiff zurückgebracht hätte …«
»Bitte beantworten Sie meine Frage.«
»Nein, Sir, aber…«
»Setzen Sie sich.« Jerram tupfte sich mit einem Taschentuch den Mund ab.
Bolitho sah sich Keens Profil an. Der Mann wirkte unter der Sonnenbräune bleich. Und verbittert.
Als nächster wurde Stayt aufgerufen. Da es sich nur um einen Untersuchungsausschuß und kein Gericht handelte, konnte Jerram fragen, was er wollte. Ein Kreuzverhör war nicht zugelassen.
»Was geschah, als Sie die
Orontes
betraten, Leutnant Stayt?«
Stayt begann: »Die Mannschaft war undiszipliniert und betrunken.«
»Wer sagte das?«
»Zu dieser Schlußfolgerung gelangte ich
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