Donnergrollen: Der fünfte Fall für Jan Swensen (German Edition)
einer Flucht werden kann?«
Lama Rhinto
Rinpoche schlägt seine braunen Augen auf, schaukelt leicht den runden Kopf mit den
ausgeprägten Wangenknochen und antwortet mit ruhiger, fast ausdrucksloser Stimme:
»Das ist eines der großen Missverständnisse des Westens über den Buddhismus. Hier
glauben die Menschen, man geht eine Weile meditieren, um sich zu stärken. Aber das
ist nicht die Hauptsache! Es geht nicht um eine Flucht vor der Welt, sondern es
geht um das Gegenteil, nämlich nach dem Meditieren wieder in die Welt hinauszugehen
und sich mehr zu engagieren als zuvor.«
»Das hört
sich sehr merkwürdig an.« Swensen ist irritiert, fragt sich, warum er jeden Tag
auf dem Kissen sitzt. »Soll das heißen, dass die Meditation gar nicht so wichtig
ist?«
»Die Frage
ist nicht einfach zu beantworten«, schmunzelt Rhinto Rinpoche, »geübte Meditationsmeister
haben gesagt, die Erleuchtung wäre die größte Enttäuschung.«
»Ehrwürdiger
Rinpoche, Sie sind aber doch erleuchtet oder?«, platzt es aus Swensen heraus.
»Ich hoffe
nicht!«
»Der ehrwürdige
Rinpoche hofft nicht, dass er erleuchtet ist? Wie ist das zu verstehen?«
»Wäre ich
erleuchtet, könnte das enttäuschend für euch sein!«
»Wieso sollte
das uns enttäuschen?«
»Weil die
Erleuchtung keine so große Sache ist, wie ihr sie euch vorstellt. Ihr glaubt bestimmt,
wenn ihr erleuchtet seid, dann seid ihr auch ein anderer Mensch. Erleuchtet bedeutet
nur aufzuwachen, ganz man selbst zu sein und darauf zu achten, was im Augenblick
passiert.«
Immer im Augenblick zu bleiben,
das ist der größte Knackpunkt, denkt der Hauptkommissar, während er seiner Erinnerung
entflieht und er das Hier und Jetzt in seinem Hotelzimmer betrachtet. Er sitzt hier
auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch, darüber das Frauenporträt im Goldrahmen, und
hält jetzt ein Foto in der Hand, eines aus dem Stapel der Fotos, die ihm Peter Hollmann
kurz vor seiner Abreise nach Dänemark in einem Umschlag mitgegeben hat.
»Vielleicht
findest du zwischendrin ein wenig Zeit, dir die Aufnahmen anzusehen und dir Gedanken
zu machen, welcher Spruch am besten unter das jeweilige Bild passen könnte.«
Der leicht
gebogene Hochglanzabzug, den er zwischen Daumen und Fingern eingespannt hält, zeigt
eine unter Sand begrabene Miesmuschel, die wie ein geöffneter, blauschimmernder
Mund aus einer grauen, bröseligen Fläche herauslächelt. Hier und jetzt gehen die
Gedanken des Hauptkommissars zu seinem letzten Spaziergang im Watt. Er grübelt über
die Buddha-Natur, den steten Wandel, die Kräfte von Ursache und Wirkung. Im Watt
zählt nur der Augenblick, im Watt zählt nur der Blick, mit dem du gerade siehst.
Es gibt keinen Fleck, der länger als wenige Minuten konstant bleibt, dann hat das
Licht alles verändert, der Gezeitenstrom neue Schlickstrukturen gespült oder der
Wind den feinen Dünensand neu formiert.
Das ist
der Anfang der Dinge , formuliert seine Intuition. Der Anfang der Dinge liegt in jedem
Augenblick.
»Lerne,
auf diese Weise zu denken« , ergänzt Meister Rinpoche den Satz, der Swensen
von seinen vielen Belehrungen im Gedächtnis geblieben ist.
Er notiert
den Satz vom Anfang der Dinge auf einem Notizzettel und nimmt das nächste Foto.
Dicke, grobe Schlickrippel treffen auf eine glatte Wattfläche, ein maritimes Yin
und Yang.
Alle Dinge
und Ereignisse stehen in Abhängigkeit von Ursache und Wirkung , notiert
er auch den zweiten Spruch. Für ein weiteres Foto, auf dem wellenartig geformtes
Binsengras wie ein grün geflochtenes Meer erscheint, schreibt er spontan: Alle
Dinge sind im Kern leer und nur eine Illusion deiner Sinne.
Vielleicht
gilt diese Weisheit ja auch für Kilian Martens, springt Swensen aus seiner Konzentration.
Der Mann scheint bei den Ermittlungen nur eine Illusion zu bleiben.
Dieser Eindruck
hat sich noch einmal verstärkt, nachdem Niels Skov ihnen nach dem Gespräch den Tipp
gegeben hatte, Kilian Martens würde bestimmt an der Mole vor Hanstholm anzutreffen
sein.
»Das ist
Kilians Lieblingsspot. Dort trainiert er meistens für den Wettbewerb«, hatte Niels
versichert. »Heute kommt der Wind aus West-Nordwest. Beste Sideshore-Bedingungen,
da brechen die Wellen perfekt auf den vorgelagerten Sandbänken.«
Silvia,
Swensen und der Däne waren mit dem Gefühl, endlich nah am Ziel zu sein, auf der
Küstenstraße nach Hanstholm gekurvt, hatten am Haus mit dem achteckigen Leuchtturm
geparkt und von dort oben aufs Meer hinausgeschaut. Doch zu ihrer
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