Donnergrollen: Der fünfte Fall für Jan Swensen (German Edition)
Er bringt sich mit dem Brett vor der Welle in
Position, springt auf die Füße und beugt seinen Körper auf die senkrechte Wasserwand
zu. Das Brett folgt ihm, als wäre es ein Teil seines Geistes. Die Welle ist fett
und der Kamm ein breiter Pfad. Er taucht in die Nebelschwaden der kochenden Gischt,
die ihm Milliarden von flirrenden Lichtsplittern um den Kopf schlägt. Jahuuu!
Die Welt
atmet durch das Meer, denkt er in einer plötzlichen Erkenntnis und findet es unbegreiflich,
dass er übers Atmen noch nie wirklich nachgedacht hat. Man atmet eben. Atem ist
das Letzte über das man ernsthaft nachdenken muss. Das Leben setzt uns an die Luft
und danach sind wir dem Mechanismus ausgeliefert zu atmen, zu atmen und zu atmen.
Und schon
ist sie da, die winzige Unachtsamkeit. Das Brett driftet zur Seite, Oleander hängt
sekundenlang in der Luft und stürzt im freien Fall in den Rücken der Welle. Sein
Körper prallt auf die salzige Haut, dreht sich in den Mantel des Meeres, der ihn
blind in die Stille hinabzieht.
Denken und
surfen geht einfach nicht zusammen!
Er taucht
auf, die nächste Welle ist schon über ihm, keine Zeit zum Atmen, nur noch brodelnder
Dampf. Das erneute Aufrichten ist purer Instinkt. Es geht weiter, den Wellen entgegen.
Oleander lässt das Brett unter seinen Sohlen rattern. Es ist wie Formel 1 fahren.
Und dann wieder paddeln und surfen, paddeln, surfen, für einige Sekunden Rennfahrerfeeling,
ohne nur einen Moment über das Rätsel des Atems zu grübeln, bis er sich völlig schlapp
fühlt und fast taumelt, als er das feste Ufer wieder betritt.
Am Rand
der Dünen, im Schatten einer Bunkerruine mit runder Geschützscharte, bekommt Oleander
bei seiner Ankunft eine Dose Faxe in die Hand gedrückt.
»Ganz schöner
Whirlpool da draußen! Siehst aber nicht besonders erholt aus, Ole!«, lästert einer.
Die aufgedrehte
Gruppe spricht Englisch, seit Oleander dazugekommen ist. Sie hat einen Kreis gebildet,
es wird lauthals gelacht, gegessen und getrunken. Drei Jungs aus Ringkøbing haben
Spraydosen dabei und besprühen mit lockerer Hand den grauen Beton mit einem langmähnigen
Surfschönling, der ein gestreiftes O’Neill-Board in seinen tätowierten Armen hält
und mit seinem Body vor einer blauen Welle steht. Und dann, wie aus heiterem Himmel,
schlägt die Stimmung um.
»Guck dir
das an, Ole!«, ruft Knud mit zornigen kleinen Augen zu Oleander hinüber, der gerade
einen kräftigen Schluck Bier nimmt. »Die Jungs machen gerade etwas Vergangenheitsbewältigung!
Eigentlich wäre das doch deine Aufgabe, oder!«
»Ich versteh
nicht, was du damit meinst, Alter?«
Knud lässt
ein gutes Maß an Schweigen verstreichen, bevor er erneut ausholt: »Was denkst du
eigentlich, wie dieser wunderschöne Beton auf unseren geilen Strand gekommen ist?
Es wird höchste Zeit ihn wieder mit nach Hause zu nehmen!«
»Wenn du
mir etwas sagen willst, dann rede nicht drum herum!«, giftet Oleander zurück und
fixiert Knud abschätzend von unten bis oben.
»Das ist
noch immer euer Atlantikwall, Mann! Ihr habt ihn hier vergessen, als ihr euch hier
verpisst habt!«
»Ihr?« Oleander
zieht das Wort in die Länge.
»Ihr Deutschen,
Alter! Schon vergessen? Das sind die Reste deiner Geschichte, das ist der Rest von
deinem Atlantikwall!«
»Du bist
völlig durchgeknallt, Knud! Wie viele Faxe hast du bereits intus?«
»Knud ist
ein Däne, Ole!«, schlägt Niels in Knuds Kerbe. »Er kann nicht begreifen, dass ein
Deutscher den Jantelov nicht kennt!«
»Den was?
Jantelov?«, fragt Oleander, als erwarte er eine Erklärung. »Seid ihr jetzt alle
auf dem Trip, oder was geht hier ab?« Er trinkt die Dose leer und pfeffert sie mit
voller Wucht an die Betonwand.
»Das Jantegesetz!
Ich erklär’s dir«, verspricht Niels und grinst verschmitzt. »Jante ist unsere imaginäre
Stadt. Und das Gesetz von Jante ist eine Art unausgesprochener Codex, der bei uns
im Norden gilt. Und das wichtigste Gebot lautet: Glaube ja nicht, dass du etwas
Besonderes bist.«
»Ich kann
euch beim besten Willen nicht mehr folgen!«, knurrt Oleander überfordert. Die Falten
zwischen den Augen werden tiefer. Er hat genug und möchte gehen, aber diese Blöße
kann er sich nicht geben.
»In Dänemark
ist niemand etwas Besonderes! Das ist alles, was Knud sagt. Die Betonmonster sind
hier, weil ihr Deutschen euch für etwas Besonderes gehalten habt. Es war ein gewisser
Adolf Hitler, der seine Truppen ohne Kriegserklärung und gegen alle Abkommen in
unser Land marschieren
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