Donnergrollen: Der fünfte Fall für Jan Swensen (German Edition)
sich an den Schreibtisch und muss plötzlich herzhaft
lachen. Freja hat neben ihrem Laptop einen Bilderrahmen mit seinem Foto aufgestellt.
Es zeigt ihn als kleinen Jungen in kurzer Lederhose mit Hosenträgern, auf dem Schoß
seines Großvaters sitzend. Seine Mutter und sein Vater stehen wie Wächter des Glücks
links und rechts daneben. Als Freja das alte Foto beim letzten Besuch zufällig in
seiner Brieftasche entdeckt hatte, war sie völlig angerührt gewesen und bettelte
solange, bis er es ihr geschenkt hatte.
Es ist eingerahmt,
in einen Goldrahmen! Oleander spürt einen leichten Anflug von Melancholie, der aber
sofort wieder verfliegt, als er gleichzeitig den Laptop hochfahren lässt. Über Google
klickt er auf ›windguru.cz‹ und geht auf die Seite Klitmøller.
Laut Beaufort-Skala
wird der Wind zum Nachmittag abflauen. Er dreht dann überwiegend auf Süd-Südwest
und bläst höchstens mit vier. Hört sich nach einem guten Spot am ›Bunker Beach‹
an, denkt er.
Der ›Bunker Beach‹ ist ein Strandabschnitt,
auf dem über mehrere 100 Meter verstreut alte Bunkerruinen aus dem zweiten Weltkrieg
liegen. An der rechten Uferseite ragt eine kleine Landzunge ins Meer hinaus, die
durch eine mit Muscheln bedeckte Kalkbank noch verlängert wird. Bei Süd-Südwest
gibt es ideale Sideshore-Bedingungen mit steilen Wellen, die sauber brechen und
wunderbar abgeritten werden können.
Oleander
schaut auf die Uhr, stellt fest, dass er noch genügend Zeit hat, sich für drei Stunden
aufs Ohr zu hauen, erst dann werden die Wellen am Spot wirklich optimal sein. Er
reibt sich die Augen und obwohl er sich richtig müde fühlt, surfen seine Gedanken
einfach weiter durch seinen Kopf, stürzen sich den an- und abschwellenden Erinnerungen
entgegen. Sein Geist gleicht dem Salzwasser, spült unentwegt neue Bilder vor sein
inneres Auge. Er sieht Kilians Rückenmuskeln, hart wie Granitfelsen, sieht seine
Arme rotieren, mit kräftigen Schlägen paddeln. Er hält mit dem Board auf eine sich
hebende Linie zu. Blitzschnell steht sein Schattenriss auf der smaragdgrünen Welle,
und der Kamm krümmt sich über ihn hinweg. Seine Gestalt ist für eine Ewigkeit unter
dem dünnen Wassermantel verschwunden, wird am Ende aus dem Lauf der Welle, der Eisenkugel
einer Kanone gleich, herausgeschossen.
Freja will
es bis heute nicht wahr haben, dass er, Oleander Eschenberg, freiwillig das Wettkampf-Team
von Kilian verlassen hat.
Er kann
sich noch genau an 1996 erinnern, an das Jahr, als er diese Entscheidung traf. Der
große Kilian Martens war auf dem Höhepunkt seines Erfolges als Profi-Sportler angekommen.
Oleander quälten bereits tiefe Zweifel, ob er in den verrückten Speedwettkämpfen
wirklich Erfüllung finden würde, derentwegen er von Zuhause abgehauen war. Vielleicht
lag seine Unzufriedenheit aber auch nur daran, dass Kilian ihm immer ein Stück weit
voraus war. Dieser entscheidende Hauch, der ihn quälte und der ihn neidisch machte.
In den Windsurferkreisen auf Hawaii nannten alle Kilian nur ›die Maschine‹, die
mechanisch immer auf absoluter Power lief. Für sein Selbstwertgefühl war es wichtig,
mit einem feinen Lächeln auf den Lippen jedermann zu trotzen, der das Zeug hatte,
ihn herauszufordern. Kilian dachte an nichts anderes als den nächsten Run, er lebte
auf, wenn er in jeder Sekunde seinen Mut unter Beweis stellen konnte. Geschwindigkeit
wurde zu seiner Droge, er war süchtig danach und ist wahrscheinlich noch heute abhängig.
Im Schatten
des großen Kilian, als sein Unterstützer und Handlanger, führte der ›Zirkus Windsurfen‹
Oleander von Hawaii in die Karibik, nach Japan und weiter nach Südafrika. Geld gab
es ohne Ende, Kilian brachte es in seiner Glanzzeit mit seinen Preisgeldern bis
auf eine Million Dollar pro Jahr, und für Oleander fielen immer genügend Krumen
vom Kuchen ab. Aber so wie das Geld hereinkam, ebenso schnell war es mit den Surfkumpels
wieder verpulvert. Er kam nie dazu, über den nächsten Tag nachzudenken. Eines Tages
musste Oleander selbstkritisch feststellen, dass er nicht mehr begeistert war, diszipliniert
zu trainieren, täglich Gewichte zu stemmen und diese elenden Diätpläne einzuhalten.
Irgendein Funke war auf der Strecke erloschen, sein Körper zeigte die ersten Schwachstellen,
und eine innere Stimme mahnte ihn immer wieder: Du verzettelst dich, mein Lieber!
Auf dem
Flughafen von Kahului war es dann soweit. Oleander stand am Eincheckschalter inmitten
der schweren Ausrüstung von drei
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