Donnergrollen: Der fünfte Fall für Jan Swensen (German Edition)
als es zu regnen
beginnt. Dicke Tropfen zerplatzen an der Seitenscheibe. Der Hinterhof des Badehotels
liegt düster im Regenschauer. Freja Sjøqvist, die nach dem Klingeln ihre Haustür
öffnet, hat ein verkniffenes Lächeln auf den Lippen und bittet die feuchten Gestalten
herein. »Wie oft wollen Sie noch kommen?«, fragt sie mit bitterem Unterton.
»Der Fall
ist noch nicht gelöst«, entgegnet Silvia Haman erstaunlich sanft.
»Ich habe
Ihnen bereits alles gesagt!«
»Es tut
uns leid, aber manches liegt nicht in unserer Macht!« Swensen versucht, jeglichen
Druck aus seiner Stimme zu nehmen. »Beim letzten Gespräch haben wir über den Großvater
von Herrn Eschenberg geredet, dass er während der Besatzungszeit in Hanstholm stationiert
war.«
»Ich weiß
wirklich nicht, was Sie von mir wissen wollen.«
»Sie haben
gewusst, dass Ihre Großmutter in Hanstholm gelebt hat?«
»In Hanstedt!«
»In Hanstedt,
richtig! Ich frage mich, warum Sie uns das verschwiegen haben?«
»Was ist
daran so wichtig? Warum fragen Sie ständig nach meiner Großmutter? Sie ermitteln
doch im Todesfall von Oleander?«
»Es soll
eine alte Dose geben, das hat uns gerade Ihre Mutter erzählt. Darin sollen Dinge
Ihrer Großmutter sein. Haben Sie diese Dose noch?«, fragt Swensen. Seinem Tonfall
ist anzumerken, wie wichtig ihm sein Anliegen ist.
»Wenn Sie
diesen kleinen Kekskasten meinen, der ist noch da.«
»Ich hätte
eine große Bitte, dürfte ich mir vielleicht den Inhalt ansehen? Ich verspreche Ihnen,
danach sind Sie uns auch los.«
»Okay, der
Kasten, wo habe ich diesen Kasten?« Freja spricht mehr zu sich selbst. Ihr Blick
irrt durch den Raum, bis sich ihre Miene aufhellt. Sie verschwindet in den Nebenraum,
ist gleich darauf mit einer viereckigen alten Keksdose zurück und stellt sie auf
den Wohnzimmertisch. Sie hat einen abnehmbaren Blechdeckel, auf dem die aufgedruckten
Verzierungen bereits abgeblättert sind. Swensen erinnert sich an einen ähnlichen
Blechkasten seiner Mutter, in dem sie jahrelang selbstgebackene Weihnachtsplätzchen
bis zum Fest gelagert hatte. Die Hälfte des Kastens ist mit alten Fotos gefüllt,
die sich über die Jahrzehnte bräunlich verfärbt haben. Freja Sjøqvist nimmt sie
heraus und verteilt sie auf dem Tisch. Sie deutet mit dem Finger auf eines der Fotos.
»Das ist die Mutter meiner Großmutter, meine Urgroßmutter, vor der Baracke in der
Siedlung Nytorp!«
Ein typisches
Bild, denkt Swensen, könnte auch aus dem Fotoalbum meines Vaters stammen. Diese
Frisuren und die Kleider, kein wesentlicher Unterschied.
Freja greift
zu einem anderen Foto. Es zeigt zwei junge Mädchen an einer Holzwand, stocksteif
hinter ihren Fahrrädern. »Links, das ist meine Großmutter, das Mädchen daneben kenne
ich nicht. Vielleicht ist das Damaris, Damaris Mølby.«
»Wer ist
Damaris Mølby?« Swensen bemerkt den misstrauischen Blick von Freja Sjøqvist und
ergänzt: »Entschuldigung, ich frage nur, weil Sie den Namen kennen, aber nicht wissen,
wie Damaris Mølby aussieht.«
»Ich habe
einen Brief von ihr«, sagt Freja Sjøqvist nach einigem Zögern. »Den habe ich mal
unter den ganzen Fotos in diesem Kasten gefunden. Eine Damaris Mølby hat ihn an
meine Großmutter geschrieben. Ich kenne die Frau nicht. Aber der Brief ist merkwürdig.
Ich weiß bis heute nicht, worum es darin wirklich geht.«
»Darf mein
dänischer Kollege den Brief sehen?«, fragt Swensen und schaut die Frau bittend an.
Freja Sjøqvist
greift in die Keksdose und fördert einen blauen Briefumschlag zu Tage. Dem Hauptkommissar
springt sofort die deutsche Briefmarke ins Auge. Er erkennt den Kopf von Dietrich
Bonhoeffer. Zum 50. Todestag liest er, indem er den Kopf verdreht, und nimmt den
Umschlag entgegen. Die Marke ist am 17. Mai 1995 in Rüdesheim am Rhein abgestempelt.
Der Absender: Die Benediktinerabtei St. Hildegard. Er zieht ein handgeschriebenes
Papier heraus. Der Brief ist, wie erwartet, in Dänisch verfasst. Swensen reicht
ihn Ove Toksvig hinüber. Der Vicepolitikommissær liest ihn durch und übersetzt mit
langsam gesetzten Worten:
»Liebe Aase,
nach so vielen
Jahren, jetzt als alte Frau, muss ich dir schreiben. Zu sehr drückt mich die Schuld.
Die Bilder aus der Vergangenheit sind wieder aufgetaucht, sie stehen so deutlich
vor meinen Augen, als wäre es gestern geschehen. Du als junges Mädchen, so wie ich
dich in meiner Erinnerung behalten habe, kurz bevor unsere Wege sich trennten. Du
steigst in das Auto des Deutschen! Immer habe ich
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